Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester – Roman

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Vandam
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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester – Roman

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Gina Mayer: Das Lied meiner Schwester – Roman, Berlin 2010, Aufbau-Verlag (Rütten & Loening), ISBN 978-3-352-00786-6, Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten, Format: 14 x 22 x 4,5 cm, EUR 19,95 (D), EUR 20,60 (A)

„Sie wusste nichts über ihre Mutter. Ihre Zieheltern hatten ihr erzählt, dass sie Sängerin gewesen sei und bei einem Fliegerangriff ums Leben gekommen wäre. Das entsprach nicht der Wahrheit.“ (Seite 525)

Düsseldorf 1964: Die Musikstudentin Friederike fällt aus allen Wolken, als ihre Tante ihr zum 21. Geburtstag ein Bündel Briefe überreicht, die ihre Mutter an sie, das damals noch ungeborene Kind, geschrieben hat. Im Gefängnis, die eigene Hinrichtung vor Augen.

Davon hat Friederike nichts gewusst. Stimmt es denn wenigstens, dass ihr Vater vor Stalingrad gefallen ist? Nein, auch das war ganz anders. Friederike liest die Briefe, und ihre Tante beginnt endlich zu erzählen. Nach und nach erfährt die Studentin die schreckliche Wahrheit.

Alles beginnt Mitte der 20-er Jahre: Nach dem Tod der Eltern nimmt die Krankenschwester Anna Mandel ihre 17-jährige Schwester Orlanda bei sich auf. Fortan leben die beiden zusammen in einer kleinen Wohnung in Düsseldorf. Besonders nahe stehen sie sich nicht, dafür sind sie zu verschieden. Anna, äußerlich unscheinbar und schnörkellos vernünftig, musste sich schon als Kind um den Haushalt, die kranke Mutter und die jüngere Schwester kümmern. Ihr Vater, der Anna die schwere Verantwortung aufgebürdet hat, verachtet sie wegen ihrer nüchternen Art. Sein Liebling ist die schöne, flatterhafte Tochter Orlanda, die musikalisch ist wie er.

Anna wurde, wie gesagt, Krankenschwester, die kapriziöse Orlanda studierte Gesang und hat nun ein Engagement als Chorsängerin am Düsseldorfer Operettenhaus.

Im Juni 1929 nimmt das Unheil seinen Lauf: Durch ihre Freundin Fritzi Albrecht lernt Orlanda zwei befreundete Musiker kennen: den Operntenor Clemens Haupt und seinen Kumpel, den Jazzgeiger Leopold Ulrich. Orlanda fühlt sich zu beiden hingezogen und wird sich auch in den kommenden Jahren nicht zwischen Clemens und Leopold entscheiden können. Ist sie mit dem einen zusammen, sehnt sie sich nach dem anderen – es wird ein permanentes Hin und Her. Orlanda beginnt eine Beziehung mit Geiger Leopold. Sänger Clemens, der sich ebenfalls in sie verliebt hatte, tröstet sich vorübergehend mit ihrer Freundin Fritzi.

Nachdem Orlanda ihre Stelle im Operettenchor verliert, landet sie als Sängerin beim Rosenland–Swingorchester, einer Jazzband. Nach anfänglichen Umstellungsschwierigkeiten wird ihr klar: nie wieder Operette! Jazz ist genau ihr Ding. Doch schon an Weihnachten 1929 ist es damit wieder vorbei: Dass ihre Musikerkollegen Juden sind, bringt die „Völkischen“ auf den Plan.

Inzwischen haben wir 1938. Anna ist mit Johannes Bredelin, dem Organisten der Friedenskirche, verheiratet, Orlanda mit Leopold. Seit Jazz als „entartete Kunst“ gilt, steht Orlanda nicht mehr auf der Bühne sondern hinter der Theke eines Gemischtwarenladens. Während Clemens zum Weltstar aufsteigt, weil er sich mit den Nazis arrangiert, ist Leopold wegen seiner kritischen Äußerungen arbeitslos und hängt deprimiert zu Hause herum. Den Lebensunterhalt verdient Orlanda. Sie trifft sich jetzt wieder mit Clemens.

Für ihre Schwester Anna ist die Sache klar: „Orlanda war nie erwachsen geworden, obwohl sie inzwischen dreißig war. Im Grunde hing sie immer noch ihren verstiegenenen Kindheitsträumen nach. Dabei hatte sie alle ihre hochfliegenden Pläne aufgeben müssen, sie war weder ein berühmter Operettenstar geworden noch eine große Jazzsängerin. Jetzt arbeitete sie als gewöhnliches Ladenmädchen.“ (Seite 261)

Anders als Clemens Haupt oder Leopold Ulrich würden sich Anna und ihr Mann Johannes nie zu einem öffentlichen politischen Statement hinreißen lassen. Dass sie Mitglieder der regimekritischen Bekennenden Kirche sind und sich regelmäßig mit Gleichgesinnten treffen, wissen nur eine Handvoll Leute. Durch diesen Gebetskreis kommen Anna und Johannes in Kontakt mit einer Widerstandsgruppe. Sie drucken Plakate und Flugblätter und malen Parolen an Hauswände. Und sie verstecken und versorgen von den Nazis verfolgte Personen.

Orlanda, die seit März 1939 von Leopold getrennt lebt, ist zum Arbeitsdienst bei Rheinmetall abkommandiert worden. Clemens und Leopold sind an der Front. Unabhängig von Annas Aktivitäten, von denen sie gar nichts weiß, denkt Orlanda daran, in den Widerstand zu gehen: „Allein konnte sie nichts ausrichten. Man musste sich zu einer Gruppe zusammenschließen und gemeinsam zuschlagen. Aber wie sollten sich Gleichgesinnte zusammenfinden, wenn man nach der leisesten kritischen Äußerung im Gefängnis landete? Es gab einen Widerstand. Das bewiesen die Zeichen an der Wand. ‚Weg mit Hitler’, gänzte es eines Morgens in nasser Ölfarbe an der roten Klinkermauer vor der Fabrik.“ (Seite 439)

In einem Streit zwischen den Schwestern kommt es zu einem folgenschweren Missverständnis, und Anna verplappert sich. Jetzt weiß Orlanda Bescheid. „Es war der Abend des 20. März 1942, als die beiden Schwestern dieses Gespräch führten, als Anna Orlanda endlich von der Gruppe erzählte, der sie seit fast vier Jahren angehörte (...).“ (Seite 444) Jetzt will sich Orlanda der Gruppe ebenfalls anschließen, auch wenn ihre Schwester Bedenken hat.

Elisabeth, die die Widerstandsgruppe leitet, wird für Orlanda zum Idol, dem sie mit glühender Begeisterung nacheifert. Merken die Schwestern, dass Elisabeths Ideen und Pläne immer radikaler, weltfremder und gefährlicher werden? Und vor allem: Merken sie es rechtzeitig?

Sorgfältig hat die Autorin für ihr Buch recherchiert: über Jazzmusik und den Operettenbetrieb, über die Arbeit einer OP-Schwester, die Geschichte des Evangelischen Krankenhauses in Düsseldorf und über den Kirchenkampf zwischen der Bekennenden Kirche und den Deutschen Christen und über vieles andere mehr.

Wieder einmal ist es ihr gelungen, Frauengestalten zu schaffen, die einem nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Die bodenständige Anna, die schon als Zehnjährige das Leben einer Erwachsenen führen musste, die impulsive Orlanda, die niemals wirklich erwachsen wird. Und Fritzi Albrecht, der sehr viele Opfer abverlangt werden. Im Vergleich dazu wirken die Männer fast ein wenig blass: Clemens, dem der Opportunismus quasi in die Wiege gelegt wurde, Leopold, der gegen alles kämpfen kann, nur gegen seine Gefühle nicht, der weltfremde Künstler Johannes und der überzeugte Nazi Dr. Müller.

Manche Personen möchte man schütteln, weil sie so handeln, wie sie handeln. Aber ihr Tun ist stets folgerichtig. Es ist nachvollziehbar dass sie aufgrund ihrer Situation, ihrer Überzeugung oder ihrer Persönlichkeit im Moment nicht anders können.

Raffiniert ist der Aufbau der Geschichte, da man wegen der Rahmenhandlung lange Zeit rätselt, wie denn die Musikstudentin aus den 60-er Jahren in die Geschichte der Schwestern Mandel hineingehört. Und wer wohl die Mutter ist, die im Gefängnis Briefe an ihr ungeborenes Kind schreibt? Erst mit der Zeit beginnt man die Zusammenhänge zu ahnen – und sich zu fragen, wie es nur so weit kommen konnte.

Auf geradezu unheimliche Weise lässt uns die Autorin manchmal weit in die Zukunft blicken. Ganz nebenbei erfahren wir, was aus dem Mann wird, der eine der Sängerinnen zum Krüppel schlägt: Er wird im Jahr 1988 als mehrfacher Großvater und pensionierter Direktor sterben. Wir sehen auch, wie das restliche Leben des Rosenland-Gitarristen verläuft. Gina Mayer lässt uns sogar wissen, was aus dem Wespennest im Gasthaus wird, in dem Dr. Müller seine Hochzeit feiert: 1973 wird es bei Renovierungsarbeiten im Bauschutt enden. Diese kleinen, schlaglichtartigen Szenen haben mal tragischen und mal komischen Charakter – und bringen die Geschichte von Anna und Orlanda in Zusammenhang mit dem Hier und Jetzt. Das ist nicht einfach eine Story von anno dunnemals. Sie wirkt bis in die Gegenwart und in die Zukunft nach.

Die Sprache ist zum Teil wunderschön bildhaft und geradezu poetisch: „Die Stufen glänzten speckig wie ein altes Jackett.“ (Seite 7). „Orlanda. Nicht Lissy oder Betsy oder Fritzi, sondern Orlanda. Ein Name so außergewöhnlich wie eine Barockkirche mitten in einem Vergnügungsviertel.“ (Seite 20) Diese Elemente werden sehr wohldosiert eingesetzt. Zu keiner Zeit besteht Kitschgefahr.

Auch wenn das Thema sehr ernst ist, ist die Geschichte keineswegs humorlos erzählt. Das kleinkarierte Hickhack in Annas Gebetskreis bringt jeden zum Grinsen, der jemals mit Kollegen oder Vereinskameraden zu tun hatte. Nett ist auch die Szene, in der Anna sich über ihre Ex-Kollegin Greta, die jetzige Ehefrau des Dr. Müller, Gedanken macht: „Jedes neue Kind präsentierte sie stolz im Evangelischen Krankenhaus. Die anderen Schwestern überschlugen sich jedes Mal vor Begeisterung über die blond gelockten, pausbäckigen Geschöpfe. Anna fand, dass sie alle gleich aussahen. Ob Müller sie auseinanderhalten konnte? Immerhin unterschieden sie sich ja noch in der Größe.“ (Seite 264)

In ihrer Danksagung am Schluss des Buchs verrät uns Gina Mayer, dass ihr für die Schwester Anna im Roman das Berufsleben ihrer Schwiegermutter als Vorbild gedient hat. „Meine erfundene Anna hat übrigens nicht nur den Beruf von Schwester Lore übernommen, sondern auch ihre Arbeitseinstellung und viele Charakterzüge“, schreibt die Autorin (Seite 533). Wenn das so ist, dann hat sie ihrer Schwiegermutter ein ebenso sympathisches wie eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt.

Die Autorin
Gina Mayer, 1965 in Ellwangen geboren, lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf. Bevor sie freie Autorin wurde, arbeitete sie als Werbetexterin.
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