Anna Maria Schenkel - Tannöd

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Borrel
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Registriert: Do 25. Jun 2009, 18:14
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Anna Maria Schenkel - Tannöd

Beitrag von Borrel »

Autor: Anna Maria Schenkel
Titel: Tannöd
ISBN: 3442736730

Kurzfassung:
In der tiefsten bayerischen Einöde: Eine ganze Familie wird in einer Nacht ausgelöscht, mit der Spitzhacke erschlagen. Jetzt heißt er nur noch Mordhof, der einsam gelegene Hof der Danners in Tannöd und vom Mörder fehlt jede Spur …

Meine Meinung:
Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis - ja, dem kann ich nur zustimmen, ein unglaubliches Buch. Eine Familie wird ermördert, auf einem abgelegen Hof in Bayern. Die ganze Gemeinde ist entsetzt, dass so was hier am Lande verübt werden kann. Jede Person in diesem Dorf trägt dazu bei das Unglaubliche zu enthüllen. Sehr interessant, wie die Autorin die einzelnen Personen erzählen läßt, was so vorgefallen ist, die Vermutungen, die Ereignisse rund um den Hof, einfach genial.
Wenn Du über Deinen Schatten springst,
landest Du im Licht und in der Wärme der Sonne.
sulky2806
Beiträge: 84
Registriert: Di 6. Okt 2009, 19:27

Re: Anna Maria Schenkel - Tannöd

Beitrag von sulky2806 »

Diese Rezension von mir findet sich etwas weiter hinten. Ich fände es glücklicher, wenn man erst mal schaut, ob es für das betreffende Buch schon einen Thread gibt, um das Forum nicht zu sehr aufzubauschen. Über die Suchfunktion geht das relativ einfach.

Tannöd. Ein Krimi. Aber kein Krimi wie tausend andere. Keine 08/15-Detektivgeschichte mit der üblichen Protagonistin, die irgendwie mit dem Opfer / den Opfern in Verbindung steht und im Laufe der Geschichte selbst in Gefahr gerät, um dann beim Showdown am Ende in allerletzter Sekunde gerettet zu werden, sich selbstverständlich in den Detektiv / Cop / Ermittler / Was-weiß-ich-wen verliebt und alles wird gut! Nicht dieser massentaugliche Krimi-Einheitsbrei! Sondern ein Diamant unter Kieselsteinen, basierend auf einem bis heute ungeklärten Mordfall aus den 20er Jahren. Dieses Buch ist...außergewöhnlich! Grandios!

Auf den ersten Blick vielleicht nicht zu erkennen! Vielleicht muss man das Buch zum zweiten Mal gelesen haben, mit etwas Abstand. Mir jedenfalls wurde sie beim ersten Mal nicht bewusst. Mir war nur eines klar: Dass ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. Hin- und hergerissen zwischen Faszination und Ablehnung, hätte ich nicht definieren können, was mich abstieß, was mich faszinierte. Ich erhoffte mir Antworten auf meine Fragen. Ich habe es ein zweites Mal gelesen. Ich erhoffte mir Antworten auf meine Fragen und beim zweiten Lesen fügte sich auf einmal alles zusammen. Plötzlich passte alles, offenbarte sich der Sinn eines jeden Elementes.

Ein großer Teil der Faszination gründet sicherlich darauf, dass diesem Buch ein tatsächlicher Fall zu Grunde liegt, dass dieser Mord tatsächlich so geschehen ist, vor fast 90 Jahren und bis heute ungeklärt, dass die Personen im Buch tatsächlich existierende Vorbilder haben, dass die ganzen Hintergründe rund um die Tat tatsächlich so vorhanden waren. Der Inzest, die vermutete Person auf dem Dachboden, der Monteur, der die Maschine repariert, der Mörder, der das Vieh versorgt.... Das Internet ist voll mit Informationen dazu und man fühlt den Drang nachzuforschen, mehr zu erfahren.

Dieses Buch hat Bilder in meinem Kopf geformt, wie selten zuvor ein Buch. Ich sah alles vor mir: den Hof, das Bauernhaus, den Wald, den Stadel, die über das Gebetbuch gebeugte alte Bäuerin, die Kammer der Magd, die Rauchküche, den Stall, das Vieh, die Düsternis,.... Ich konnte das Düstere, Unheimliche richtig fühlen, es umgab mich, es zog mich in seinen Bann.

Zu Beginn erscheint die Erzählweise unsortiert, chaotisch und erst nach und nach erschließt sich die Geschichte. Abwechselnd werden der Tathergang und die Entdeckung der Leichen geschildert, werden Berichte eingeschoben und kommen die Dorfbewohner zu Wort - im Gespräch mit dem Unbekannten, der zu Beginn des Buches kurz, eine halbe Seite lang, in Erscheinung tritt, dessen Identität dann aber im Verborgenen bleibt, dessen Beiträge zu den Gesprächen nicht erscheinen.

Unterbrochen wird das Ganze von Gebetspassagen, der „Litanei zum Troste der armen Seelen“ aus dem Gebetbuch der alten Dannerin, dem „Myrtenkranz. Ein geistlicher Brautführer und Andachtsbuch für die christliche Frau“. Allein diesen Titel muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Für jemanden wie mich, der solche heruntergeleierten vorgefassten, angeblich selig machenden Rituale, wie sie die katholische Kirche vorgibt, aus tiefstem Herzen ablehnt, nur eine weiteres Indiz für die Heuchlerei und Bigotterie der „Gemeinschaft“ der Menschen in einem abgelegenen Dorf im erzkatholischen Oberbayern. Konsequent zieht Andrea Maria Schenkel das durch und zerrt eben diese heuchlerische Frömmigkeit gnadenlos ins Licht! Beim ersten Lesen habe ich bei den Gebetspassagen einfach weitergeblättert. Beim zweiten Lesen habe ich die Dinger bewusst mitgelesen. Und dabei ist MIR bewusst geworden, wie bewusst, Andrea Maria Schenkel diese Texte gesetzt hat – an welchen Stellen, welche Gebete, in welcher Reihenfolge! Genial!

Daneben stoßen gerade diese eingeschobenen Litaneien den Leser geradezu auf den vorgegebenen Kontrast zwischen fast schon fundamentalistischer blinder Gläubigkeit und den Abgründen der menschlichen Seele, vor denen letztendlich auch heruntergeleierte Gebete nicht zu schützen vermögen. Wie passt es zusammen, dass die alte Dannerin scheinbar tiefgläubig tagtäglich diese Litaneien herunterbetet und gleichzeitig jahrlang tatenlos zusieht, wie ihr Ehemann die eigene Tochter missbraucht, wie sich diese inzestuöse Beziehung bis ins Erwachsenenalter fortsetzt? Glaubt sie, sich durch dieses Beterei von dieser Schuld freikaufen zu können?

Befremdlich erscheint zu Anfang, wie die unterschiedlichen Personen sich äußern, wie deren Sprache aufgegriffen und wiedergegeben wird. Aber mit der Zeit erkennt man darin den Spiegel der Charaktere. Wie wunderbar wird die Verwirrtheit und fortschreitende Demenz der Beamtenwitwe Babette Kirchmeier aus ihren Lobeshymnen auf die Marie sichtbar. Wie deutlich wird die bigotte wütende Selbstgerechtigkeit der frömmelnden Pfarrersköchin Maria Lichtl herausgearbeitet. Wie klar erkennt man die Bemühungen des Bürgermeisters Franz-Xaver Meier, seine Würde zu bewahren, „seinen“ Ort als fromm und ordentlich darzustellen und die ganze Geschichte, die ein ungutes Licht auf „sein“ Dorf wirft, herunterzuspielen und möglichst schnell vergessen zu machen. Grandios, wie die unterschiedlichen Charaktere allein durch ihre eigenen Worte dargestellt und herausgearbeitet werden.

Gerade die Beschränkung bei der Wiedergabe der Befragungen der Dorfbewohner auf die Antworten und Erzählungen derselben, gerade die Zitierung des Gesagten Wort für Wort ermöglicht dem Leser Einblicke in die Charaktere, in deren Lebensumstände, in ihre Sicht der Dinge in einer Tiefe, die anders kaum möglich gewesen wäre. Wären diese Gespräche in der Art wiedergegeben wie in anderen, in gewöhnlichen Romanen üblich, hätten die Schilderungen nie diese Dimension der Eindringlichkeit erreichen können. Andrea Maria Schenkel braucht keine seitenlangen langweiligen Personenbeschreibungen, um ihre Charaktere darzustellen. Sie schafft es, ein weitaus klareres Bild von diesen zu zeichnen, indem sie sie einfach nur sprechen lässt, als dies durch eine solche Beschreibung jemals möglich wäre.

„Ich komme mir vor, als wenn ein Kleinkind das Buch geschrieben hat!" So hat eine Bekannte, die das Buch auch gelesen hat, sich geäußert mit Fingerzeig auf die Schilderung der Beamtenwitwe Babette Kirchmeier! Möglich, dass das der erste Eindruck ist, liest man die ständigen Wiederholungen in den Erzählungen der alten Frau. Wer sich aber schon mit alten Menschen mit einer Neigung zur Demenz unterhalten hat, weiß, dass gerade eben diese ständigen Wiederholungen die Sprache solcher alten Menschen kennzeichnet. Niemals hätte den Leser dieses Erkennen der Eigenarten, des zunehmenden geistigen Verfalls der Babette Kirchmeier mit einer solchen Wucht getroffen, hätte Andrea Maria Schenkel geschrieben: „ Vor mir saß eine schmal gewordene alte Dame, das Gesicht gezeichnet durch die Erfahrung aus 84 (??? Das Buch ist bei Steffi!) Lebensjahren, die Augen müde geworden. Die Schwestern hatten mir berichtet, dass sie an manchen Tagen vollkommen wachen Verstandes sei und man sich mit ihr über Gott und die Welt unterhalten könne. An anderen Tagen dagegen klammere sie sich an einigen wenigen Sätzen fest. Heute war so ein Tag.“ DAS kann jeder halbwegs begabte, der deutschen Sprache mächtige Autor!

Unverständlich auch zu Beginn die detaillierte Schilderung der morgendlichen Verrichtungen auf dem Hof, das Füttern und Melken der Tiere. Warum wird die Milch auf den Mist gekippt? Erst später begreift man, dass hier der Mörder beobachtet wird, dass er es ist, der dem verwaisten Hof den Anschein von Normalität und Alltag zu geben versucht. Unheimlich ist es, dieses menschliche Monstrum zu begleiten, ohne seine Identität zu kennen. Man fühlt sich fast wie ein Mitwisser.

Der Tathergang wird aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Mal ist es ein neutraler Erzähler, mal eines der Opfer, mal der auf dem Dachboden versteckte Mich Baumgartner und dann ist da ja auch noch irgendwo der Mörder. Auch er kommt zu Wort.

Das wahre Gesicht der Menschen einer Dorfgemeinschaft in einem ach so idyllischen bayerischen Dorf der Nachkriegszeit, die Blindgläubigkeit der frömmelnden Katholiken, die Beziehungen der Bewohner eines abgelegenen Dorfes mit all seinen Abgründen treten nach und nach zu Tage. Dieses Buch ist auch ein gelungenes Gesellschaftsportrait eines solchen Umfeldes ohne jeden Schnickschnack und Weichzeichner.

Unheimlich und düster ist dieses Buch. Reduziert auf das Wesentliche, auf die Menschen und die Abgründe ihrer Seelen. Andrea Maria Schenkel verzichtet auf jegliche Ausschmückung, jeden Zierrat. Wozu auch? Man spürt sich beim Lesen hinein in die Atmosphäre, die diesen Hof und seine wortkargen, schwer arbeitenden und frömmelnden Menschen umgibt. Es bleiben Fragen. Warum hat der Mörder sich nicht damit zufrieden gegeben, Barbara und die 3 Menschen zu ermorden, die ihn auf frischer Tat zu ertappen drohten? Warum ist er weiter ins Haus gegangen und hat die gerade erst an diesem Tag in den Dienst der Danners getretene Magd ermordet? Warum den kleinen Jungen in seiner Wiege? Warum diese barbarischen Morde, dieser Rausch, diese Raserei? Letztendlich sind das aber auch die Fragen, die bei dem zu Grunde liegenden Mordfall offen geblieben sind.

Ein wenig schade, dass die Autorin hier vom tatsächlichen Geschehen abweicht und einen Mörder präsentiert. Glaubt sie, dieses dem Leser zu schulden? Gehört das zu einem guten Krimi, dass man am Ende weiß, wer der „Böse“ ist? Ich denke nicht zwangsläufig! Letztendlich hat auch die Festlegung auf einen Schuldigen nicht all die Fragen beantwortet, die das Buch, die aber auch die reale Hintergrundgeschichte stellt.

Hinter dieser Geschichte stehen aber auch real existierende Personen. Auch wenn diese längst verstorben sind, ihre Namen sind leicht im Internet zu ermitteln und die Nachkommen werden nun, Jahrzehnte später, wieder mit der möglichen Schuld ihres Vorfahren konfrontiert. Nachgewiesen konnte die Schuld des Hauer (im wirklichen Leben Lorenz Schlittenbauer) im tatsächlichen Fall niemals, möglicherweise auch aufgrund schlampiger Ermittlungen. Dennoch besteht auch die Möglichkeit, dass jemand anderes der wahre Schuldige ist, denn es bleiben auch andere Punkte nicht geklärt. Was hat es mit den Fußspuren, die zum Haus führen auf sich. Wo ist der Schwiegersohn geblieben? Ist er tatsächlich tot? Ich halte es nicht nur für schade, in einer solchen Geschichte, die auf einem realen Fall basiert, der nie geklärt werden konnte, einen Täter zu präsentieren, sondern auch für unklug und gefährlich. Mein einziger Kritikpunkt!

Fazit:
Das war sicher „schwere Kost“, nicht das, was man unbeschwertes Lesevergnügen oder spannende Unterhaltung nennen würde. Dieses Buch geht unter die Haut und ist für mich jeden Preis wert, den es erhalten hat. Endlich mal eins! Aber ebenso sicher auch ein Buch, das polarisiert. Die einen wird es faszinieren, die andern werden es ablehnen. Ich glaube nicht, dass es dazwischen viel gibt!
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