Charlotte Sandmann: Die Erbin – Historischer Roman

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Vandam
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Charlotte Sandmann: Die Erbin – Historischer Roman

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Charlotte Sandmann: Die Erbin – Historischer Roman, München 2010, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-24782-5, 330 Seiten, Klappbroschur, Format: 13,5 x 19 x 3 cm, EUR 14,90 (D), EUR 15,40 (A)

Berlin/München, im Sommer 1900: Salome Bottacci, die 22-jährige Tochter einer Opernsängerin und eines Pianisten, mag nach ihrem Unfall vor zwei Jahren kränklich und stark gehbehindert sein, aber sie ist intelligent, selbstbewusst und überaus vermögend. Als sie erfährt, dass ihr Freund aus Kindertagen, Nicholas von Riedenhoff, unter Mordanklage steht, zögert sie keine Sekunde ihm zu Hilfe zu eilen. Nie und nimmer glaubt sie, dass „Nickel“ in rasendem Wahn seine Haushälterin Antonia getötet und zerstückelt hat. Diese Frau war wie eine Mutter für ihn.

Familie hat Nicholas keine mehr, Freunde aufgrund seiner eigenbrötlerischen Art vermutlich auch nicht. Wenn ihm Salome nicht hilft, dann hilft ihm keiner. Da kann ihr die Schwester noch so eindringlich von dem Vorhaben abraten und ihr Schwager, der preußische Geheimrat, noch so herablassend daherreden: Was Salome sich in den Kopf gesetzt hat, das führt sie auch durch. Sie steigt in den Zug und fährt zu „Nickel“ nach München.

„Vor der Begegnung mit hochgestellten oder feindseligen Personen hatte ich keine Angst. Meine Mutter war eine Diva gewesen, selbstbewusst und einnehmend, und wir Mädchen hatten gelernt, dass man sich als Frau nicht unterordnen muss, vorausgesetzt, man war berühmt oder reich oder am besten beides.“ (Seite 35)
Auch Salome beherrscht das ganze Verhaltensrepertoire – von geschäftsmäßig über herrisch und arrogant bis zickig, und weiß, dass es ihr keinerlei Schwierigkeiten bereiten wird, die zuständigen Stellen bei Bedarf gründlich aufzumischen.

Nicholas von Riedenhoff ist vollkommen apathisch und hat an den Mord keine Erinnerung. Zu Salomes Entsetzen sitzt er nicht in Haft, sondern in der Oberbayerischen Kreis-Irrenanstalt, wo er vom Personal schikaniert und schwer misshandelt wird. (Von der modernen Psychiatrie ist man zu der Zeit noch weit entfernt.)

Salome lässt als erstes in der Anstalt den Rauch rein und keinen Zweifel daran aufkommen, dass es üble Konsequenzen haben wird, wenn ihr angeblich „Verlobter“ noch einmal gefoltert werden sollte. Als nächstes feuert sie die zwei gleichgültigen Luschen von Anwälten, die Nicholas längst aufgegeben haben, und engagiert den besten Rechtsbeistand, der am Markt zu haben ist: Orlando Löwelich. Bei der ersten Begegnung klären die junge Frau und ihr neuer Anwalt erst einmal die Fronten:
„Löwelich betrachtete mich nachdenklich. ‚Bevor wir ins Geschäft kommen, möchte ich eines vorausschicken: Ich sehe nicht so aus, aber ich bin sehr teuer.’
‚Ich sehe nicht so aus, aber ich bin sehr reich’, erwiderte ich, ohne eine Miene zu verziehen.’
(Seite 116/117) Die Antwort gefällt dem Anwalt, und der Handel ist perfekt.

Doch gibt es auch Kräfte, die mit allen Mitteln gegen Salome und Nicholas arbeiten: Einer der gefeuerten Anwälte intrigiert gegen die junge Frau. Die Boulevardpresse porträtiert sie als Teufelin, die mit ihrem Geld einen irren Frauenmörder vom Fallbeil freikaufen will. Und dezent im Hintergrund werkeln noch Strippenzieher eines ganz anderen Kalibers ...

Wenigstens ist Nicholas nun gut aufgehoben: Salome hat ihn in die Privatklinik von Dr. Lantzinger bringen lassen, der seine Patienten mit ganz neumodischen Methoden behandelt. Und in der Tat erholt der junge Mann sich dort rasch.

Die meisten Menschen halten Nicholas von Riedenhoff ganz selbstverständlich für den Täter Täter: Er ist ein frauenfeindlicher Sonderling mit diversen gesundheitlichen und psychischen Problemen, und er hat sein gesamtes bisheriges Leben in einem alten Gemäuer verbracht, auf dem ein Fluch lastet. Seit Generationen kommt es unter den Bewohnern von Schloss Hockenzell immer wieder zu merkwürdigen Krankheiten und unerklärlichen Todesfällen. Wen wundert es da, wenn ein irrer Hausherr mal eine Angestellte mit einer Axt erschlägt?

Salome, die als Kind oft die Sommerferien auf Schloss Hockenzell verbracht hat, kennt die Spukgeschichten und die unheimliche Atmosphäre des Gebäudes, aber an Flüche glaubt sie nicht. Und dass Nicholas einen Menschen mit einer Axt erschlagen haben soll, erscheint ihr sowieso absurd, und das aus einem recht handfesten Grund.

Polizeikommissär Limberger ist geneigt, Salome zu glauben. Vielleicht steckt ja doch etwas anderes hinter der Ermordung der Haushälterin als die Tat eines Verrückten. Hat die alte Dame vielleicht Einbrecher überrascht und musste deshalb sterben? Oder liegt dem Mord ein Geheimnis im Inneren des Schlosses zugrunde? Immer wieder haben sich Menschen für einen „Schatz“ interessiert, der angeblich im Gebäude versteckt sein soll. Familienschmuck? Diebesgut, das dubiose frühere Schlossbewohner zurücklassen mussten? Oder ist das mit dem Schatz nur Geschwätz, genau wie die Geschichte vom verschwundenen Kind? Aber vielleicht ist ja doch etwas im „bitteren Brunnen“ versteckt, der seit ewigen Zeiten versiegelt ist ...

Da wird eine weibliche Wasserleiche aus dem Schlossweiher gezogen. Die Frau wurde erdrosselt und ihre Identität ist eine echte Überraschung. Nun kommt Bewegung in die Ermittlungen. Doch was – und wer – wirklich hinter den beiden Morden steckt, das übersteigt die kühnsten Vorstellungen aller unschuldig Beteiligten ...

Charlotte Sandmanns Heldinnen sind ihrer Zeit stets weit voraus und beugen sich nicht dem gängigen Rollenbild einer fügsamen Frau und. Ob sie sich aufgrund ihres gesellschaftlichen und finanziellen Status eine eigene Meinung leisten können wie die Kaufmannstochter Henriette aus KALTE ZÄRTLICHKEIT oder die vermögende Salome in DIE ERBIN, oder ob die Umstände sie dazu zwingen wie die stumme, traumatisierte Helena in PARADIES IN FLAMMEN – diese Frauen wissen ganz genau, was sie wollen und was nicht und lassen sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen.

Wenn sie sich für einen Partner entschieden haben, halten sie treu und unverbrüchlich zu ihm, auch wenn er eher ein „beschädigter Held“ als ein Traumprinz ist. Gerade in Salomes Fall ist es schwer nachzuvollziehen, was sie an Nicholas findet. Sie fühlt sich ihm verpflichtet und sie hat sich als seine Verlobte ausgegeben, um ihm helfen zu können ¬– gut. Aber warum will sie ihn wirklich heiraten? Vielleicht, weil sie das Gefühl hat, dass sie als Frau mit einer Behinderung keinen anderen Mann bekommt? Nicholas mit seiner Angst vor dominanten Frauen und Salome, die Starke, Selbstbewusste und Energische – das muss doch schief gehen! Manchmal ist es ein Segen, wenn nach dem Happy End rechtzeitig abgeblend’t wird.

Die Krimihandlung ist vertrackt und spannend. Nicht alles wird aus der Sicht Salomes erzählt ... und die Passagen, die ein auktorialer Erzähler übernimmt, machen dem Leser klar, dass manches nicht so ist, wie die Heldin glaubt. Und dass sich Salome hier unwissentlich mit Gegnern angelegt hat, die ihr haushoch überlegen sind. Doch DIE ERBIN ist mehr als ein Krimi in historischem Ambiente. Der Roman ist ein Sittengemälde des beginnenden 20. Jahrhunderts und bringt dem Leser ein bedeutendes Stück der Medizingeschichte nahe: die Anfänge der modernen psychiatrischen Krankenhäuser, in denen man auch vermeintlich gefährlichen Kranken höflich, rücksichtsvoll und so sanft wie möglich begegnet.

Die Autorin
Charlotte Sandmann, geboren 1950 in Wien, begann nach verschiedenen Studien- und Ausbildungsstationen zu schreiben. Sie ist in der Erwachsenenbildung tätig, Autorin, Ghostwriterin und Übersetzerin.
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