Ben Aaronovitch: Die schlafenden Geister des Lake Superior. Eine Kimberley-Reynolds-Story

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Vandam
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Ben Aaronovitch: Die schlafenden Geister des Lake Superior. Eine Kimberley-Reynolds-Story

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Ben Aaronovitch: Die schlafenden Geister des Lake Superior. Eine Kimberley-Reynolds-Story, OT: Winter’s Gift, aus dem Englischen von Christine Blum, München 2023, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN: 978-3-423-21877-1, Softcover, 238 Seiten, Format: 12,2 x 1,99 x 19,1 cm, Buch: EUR 11,95 (D), EUR 12,30, Kindle; EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Das ist kein Peter-Grant-Band!

Nein, das hier ist kein „Peter-Grant“-Roman! Es ist ein Spin-off der Reihe wie auch schon DER OKTOBERMANN und DIE FÜCHSE VON HAMPSTEAD HEATH. Der Band spielt im selben Urban-Fantasy-Universum wie die Hauptreihe um Peter Grant und Thomas Nightingale. Die werden aber nur gelegentlich erwähnt.

Hauptfigur ist Kimberley “Kim“ Reynolds vom FBI, die in einem der Peter-Grant-Romane schon mal eine Nebenrolle hatte. Sie kennt sich aus mit magischen Angelegenheiten, auch wenn sie „nur“ gelernt hat, die entsprechenden Anzeichen wahrzunehmen, aber selbst keine praktizierende Magierin ist.

Hier erzählt FBI-Agentin Reynolds

In diesem „Sonderband“ herrscht ein etwas anderer Ton als in den übrigen Bänden. Selbst Grants deutscher Kollege Tobi Winter (der Ich-Erzähler in DER OKTOBERMANN) hat sich für mich exakt so angehört wie Grant selbst. Da musste ich mir beim Lesen immer wieder in Erinnerung rufen, dass hier ein anderer Protagonist zugange ist. Kimberley Reynolds erzählt anders. Kein Wunder: Sie ist eine Frau, sie ist US-Amerikanerin und sie stammt aus einer tiefgläubigen christlichen Familie. Sie hat keine magischen Fähigkeiten und ist ein bisschen spröde.

Einerseits ist Kimberley taff und es graust ihr vor nichts. Schon als Kind ist sie mit ihrer Familie zum Jagen gegangen. Zum Schießen und Töten hat sie ein entspanntes Verhältnis. Andererseits ist sie furchtbar zimperlich und kriegt Zustände, wenn ein Schimpfwort fällt. Das mag sie gar nicht. Mir scheint, damit karikiert der Autor ein bisschen die US-Amerikaner. Oder unsere Vorstellung von ihnen. Von Kimberley werden wir keine selbstironischen Kommentare oder gar Lästereien zu lesen bekommen wie von den anderen Ich-Erzählern der Reihe. Ich dachte, ich kläre das gleich, damit niemand ein reinrassiges Peter-Grant-Abenteuer erwartet und dann enttäuscht ist.

Unerklärliche Ereignisse in Wisconsin

Darum geht’s: Kimberley Reynolds macht beim FBI in Washington das, was Peter Grant in London bei Scotland Yard tut: Sie kümmert sich um Fälle mit „ungewöhnlichen Charakteristika“- also um alles, was nicht mit rechten Dingen zugeht. Genau deshalb landet die Nachricht des pensionierten FBI-Agenten Patrick Henderson auf ihrem Schreibtisch. Er benutzt einen vor Jahrzehnten gebräuchlichen Code für „unerklärliche Ereignisse“ und bittet dringend um Hilfe.

Kimberleys Chef schickt sie daraufhin allein zu Henderson ins winterliche und ar***kalte Städtchen Eloise in Wisconsin. Doch als sie dort ankommt, ist es schon zu spät. Henderson ist verschwunden … aus seinem Haus entführt von jemandem oder etwas definitiv Nichtmenschlichen. Ob er das überlebt hat, ist fraglich.

Auch sonst ist hier der Teufel los. Es toben gewaltige Eistornados, die solide Gebäude in die Luft pusten als wären sie aus Papier. Das ist nicht normal, findet der attraktive Meteorologe William Boyd, ein Einheimischer vom Stamm der Ojibwe. Auch nicht normal ist das Getier, das nachts um die Häuser schleicht. Hunde? Hirsche? Irgendwie nichts von beidem. Dafür hat’s zu viele Köpfe und zu viele Beine. Woher kommt dieses übernatürliche Viehzeug und hinter wem oder was ist es her?

Eine Expedition ist verschwunden – vor 180 Jahren

Bibliothekarin Sadie Clarkson, eine Freundin des vermissten Ex-FBI-Manns Henderson glaubt, dass das alles mit dem Tagebuch eines glücklosen Expeditionsleiters zusammenhängt, der 1843 auf mysteriöse Weise einen Großteil seiner Teilnehmer verloren hat. Das Buch gehört zum Bestand der Bibliothek und Henderson hat es mit großem Interesse gelesen.

Was aus den Expeditionsteilnehmern damals geworden ist, verrät das Tagebuch nicht. Der Verfasser war auch unter denen, die verschwunden sind. Doch wenn man seinen Aufzeichnungen Glauben schenkt, war die Expedition hinter einer „Abscheulichkeit“ her, irgendwas bösem Magischen, das sie als Waffe hätten einsetzen können, womöglich gegen die Indigene Bevölkerung. Wenn ja, dann war es nur so mittelschlau von den Forschern, einem jungen indigenen Krieger zu vertrauen, der ihnen den Weg zu der magischen „Abscheulichkeit“ zeigen wollte. Die, die ihm aufs Eis gefolgt sind, wurden nie wieder gesehen …

Die Monster sind los

Ja, aber warum lassen jetzt die Geister auf einmal die Sau raus, nachdem sie 180 Jahre lang Ruhe gegeben haben? Seit wann feiert die magische Demi Monde Jahrestage? Und 180 ist ja nicht mal ein rundes Jubiläum!

Wessen Geister toben hier eigentlich? Die der Indigenen? Es gibt unter ihnen Praktizierende, keine Frage. Und einen Genius loci gibt’s hier auch: Einen freundlichen jungen Ureinwohner, der ziemlich cool ist und überhaupt nicht den Eindruck macht, irgendwelche Rachephantasien auszuleben.

Jagd auf magische Artefakte

Dann wird in Ada Coles Hotel eingebrochen, ein neugieriger Hotelgast verschwindet auf ungeklärte Weise und ein magisches Artefakt taucht auf. Das hätten sie vielleicht dort liegen lassen sollen, wo’s lag, denn als Adas Enkelin es aufhebt und mitnimmt, ruft das wieder die tierischen Monster auf den Plan, die dieses Ding zu suchen scheinen. Oder sind sie hinter was ganz anderem her? Der Ethnograf Scott Walker weiß offensichtlich mehr über die Angelegenheit, als er zugibt.

Und mit dem ganzen Schlamassel soll FBI-Frau Kim Reynolds ganz alleine fertigwerden? Die Kleinstadtpolizisten sind nur bedingt eine Hilfe und auch der Meteorologe kann sich nur bemühen, ist aber kein Fachmann für Ungeheuer dieser Größenordnung. Jetzt wär’s schon nicht schlecht, wenn Kim ihre britischen Kollegen Peter Grant und Thomas Nightingale an ihrer Seite hätte. Oder wenn’s hier wenigstens nicht so krachkalt wäre und das Wetter nicht so verrückt spielen würde!

Jetzt kann nur noch ein Wunder helfen

Irgendwann haben es die Monster geschafft: Es gibt jede Menge Sachschaden, die Einwohner von Eloise sind panisch auf der Flucht, kein Mensch weiß, was hier eigentlich gespielt wird, und Kim Reynolds und ihr Meteorologe sitzen bei Nacht und Eiseskälte in der Wildnis fest. Jetzt kann eigentlich nur noch ein Wunder helfen. Oder so etwas in der Art …

Auch wenn die spröde Heldin nicht so ganz mein Ding ist, habe ich diesen Band mit Vergnügen gelesen. Die kleinen Bosheiten kommen eben nicht von ihr, sondern von anderen. Und weil es ein Kurzroman ist, gibt es auch nicht, wie in der Hauptreihe, siebenunddrölfzig Nebenhandlungen mit gefühlten hundert Figuren, die sich kein Mensch merken kann. Es gibt einen Haupthandlungsstrang mit ein paar erklärenden Exkursen und basta. Das ist auch mal fein! Ich hatte hier das seltene Gefühl, bei einem Aaronovitch-Buch der Handlung wirklich folgen zu können. Sonst denke ich immer nur: ‚Lass es krachen, Ben!`

Ich hätte noch gern weitergelesen

Der Kurzroman war mir fast ein bisschen zu schnell zu Ende. Gerade verarbeitet man noch, was hier passiert ist, und ehe man nach dem Warum fragen kann, ist Schluss. Aber gut, vielleicht gibt’s in der magischen Welt nicht immer eine Begründung, die wir Menschen verstehen würden.

Jetzt würde es mich freuen, wenn in einem der kommenden Peter-Grant-Bände mal kurz Bezug auf diese Geschichte genommen würde. Ich wüsste nämlich zu gern, ob das alles so läuft, wie der Genius loci des Lake Superior sich das vorgestellt hat.

Der Autor

Ben Aaronovitch wuchs in einer politisch engagierten, diskussionsfreudigen Familie in Nordlondon auf. Er hat Drehbücher für viele TV-Serien, darunter ›Doctor Who‹, geschrieben und als Buchhändler gearbeitet. Inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben. Er lebt nach wie vor in London. Seine Fantasy-Reihe um den Londoner Polizisten Peter Grant mit übersinnlichen Kräften eroberte die internationalen Bestsellerlisten im Sturm.
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