Hermien Stellmacher: Nur ein einziger Tanz. Roman

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Vandam
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Hermien Stellmacher: Nur ein einziger Tanz. Roman

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Hermien Stellmacher: Nur ein einziger Tanz. Roman, Berlin 2023, Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, ISBN 978-3-458-68280-6, Softcover, 264 Seiten, Format: 12,6 x 1,9 x 19 cm, Buch: EUR 12,00 (D), EUR 12,40 (A), Kindle: EUR 11,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Dennoch bin ich froh, all diese Dinge erfahren zu haben. Es ist, als wäre mein lückenhaftes Lebensmosaik endlich um die Steinchen ergänzt worden, nach denen ich schon so lange gesucht habe.“ (Seite 239)

Die Übersetzerin Henrike „Rike“ Kehrmann (60+) hat schon einiges erlebt. Dass sie als Teenager von ihren Eltern Knall auf Fall von Amsterdam in die bayerische Provinz verpflanzt worden ist, weil ihr Vater dort eine Arbeitsstelle gefunden hatte, war nur eines von vielen einschneidenden Ereignissen in ihrem Leben. Doch was jetzt innerhalb weniger Wochen auf sie einstürmt, übertrifft alles.

Rike ist in Deutschland geblieben, sollte ich vielleicht vorab erklären, während ihre Mutter als Rentnerin in die Niederlande zurückgekehrt und vor zwei Jahren dort verstorben ist.

Edgar verschwindet, Mutters Jugendliebe taucht auf

Jetzt passieren zwei Dinge, die nichts miteinander zu tun haben, aber Rikes Leben gründlich auf den Kopf stellen: Erst eröffnet ihr ihr Lebensgefährte Edgar, dass er eine Auszeit von ihrer Beziehung braucht, verschwindet im selben Moment und ist nicht mehr zu erreichen. Und sie bekommt einen Brief aus Amsterdam – von einem Herrn in den Neunzigern, von dem sie noch nie etwas gehört hat. Er gibt sich als Jugendliebe ihrer Mutter zu erkennen und bittet um Kontaktaufnahme. Er hätte wichtige Angelegenheiten mit ihr zu besprechen.

Er hat Fotos mitgeschickt, auf denen Rike ihre Mutter Francisca „Cisca“ und deren Freundin Louise erkennt. Es ist also kein fauler Trick. Und der Mann heißt Hendrik, Hendrik Rhee. Ist Rike etwa nach ihm benannt worden? Ist er am Ende gar ihr leiblicher Vater?

Weil er es gar so dringend gemacht hat, ruft sie ihn noch am selben Tag an. Hendrik, der in Amsterdam mit zwei guten Freunden in einer Senioren-WG lebt, erzählt ihr, dass er ihre Mutter auf Louises Hochzeit kennengelernt habe. Es hätte sofort zwischen ihnen gefunkt. Nur sei er damals schon verlobt und im Begriff gewesen, mit seiner Braut nach Australien auszuwandern.

Aus dieser Nummer kam er nicht mehr raus, auch wenn er in Cisca die Liebe seines Lebens gefunden hatte. Vielleicht war’s feige, aber er hat damals Hochzeit und Auswanderung durchgezogen, auch wenn es ihn fast umgebracht hat. Cisca hat er nie vergessen können. Jahre später hat er sie wiedergesehen, aber diese Begegnung ist nicht so verlaufen, wie er es sich erträumt hatte.

Rike reist nach Amsterdam – in die Vergangenheit

Das klingt alles so gar nicht nach Rikes Mutter. Sie hat auch nie von Hendrik gesprochen. Rike beschließt spontan, nach Amsterdam zu fahren und den alten Herrn zu treffen. Ihr Lebensgefährte, der jetzt sicher gemeckert hätte, ist weg. Also gibt es nichts, was sie an der Reise hindern könnte. Und wenn Hendrik irgendwelche Familiengeheimnisse zu offenbaren hat, dann sollte er es besser zeitnah tun. Bei Menschen seines Alters kann man nie wissen …

Lustige Truppe mit langer gemeinsamer Geschichte

Hendrik Rhee ist kultiviert, charmant und humorvoll, und Rike kann gut nachvollziehen, dass ihre Mutter sich damals Hals über Kopf in ihn verliebt hat. Die Senioren-WG erweist sich nach anfänglicher Reserviertheit als lustige Truppe, der man anmerkt, dass sie schon ein Leben lang füreinander da ist. Gesprächsthema Nummer 2 – nach Rike und Cisca – ist Hendriks neueste Schnapsidee, seinen alten Freunden einen Auffrischungskurs in Sachen Standardtanz angedeihen zu lassen. Mitbewohnerin Greet würde sich am liebsten davor drücken, aber Hendrik hat seine Gründe und kennt keine Gnade.

Je mehr er über Cisca erzählt, desto mehr staunt Rike. Was hat sie überhaupt über ihre Mutter gewusst? Von ihren Sehnsüchten, Wünschen und Träumen als junge Frau definitiv nichts. Offenbar gibt es Themen, die man mit seinen Kindern nicht bespricht. Und wenn es keine alten Freunde oder Verwandten gibt, die das übernehmen, lernt man seine Eltern nie anders kennen als in ihrer Funktion als Mutter und Vater. Was schade ist, weil man sie mit mehr Hintergrundwissen ein bisschen besser verstehen würde.

Rike kommt ins Grübeln

Zumindest eines ist Rike jetzt klar: warum ihre Familie vor fast 50 Jahren so überstürzt von Amsterdam nach Bayern gezogen ist. Wie es manchmal so ist: Der eine sagt oder tut etwas, dem er selbst keine große Bedeutung beimisst – und das Leben anderer wird für immer verändert.

Die Geschichte von Hendrik und Cisca bringt Rike ins Grübeln. Ist es wirklich gut, im Altvertrauten zu verharren, auch wenn es einen nicht glücklich macht, nur weil man das Risiko eines Neuanfangs scheut? Auf ihre Situation übertragen: Soll sie weiter auf Edgars Rückkehr hoffen, obwohl Ian, den sie hier in Amsterdam kennengelernt hat, eine wesentlich aufregendere Zukunft verheißt?

Doch in dieser Geschichte hat jeder seine Geheimnisse, nicht nur Hendrik und Cisca …

Was wäre wohl gewesen, wenn …?

In diesem Roman gibt’s keine wilde Action, hier passiert einfach das Leben. Nicht ganz freiwillig begibt sich die Heldin in die Vergangenheit ihrer Familie und entdeckt dabei Überraschendes, das auch Auswirkungen auf ihre Zukunft hat.

Ich habe mitgelitten mit der jungen Rike, der ich mich sehr verbunden fühlte. Wiederholt wird sie entwurzelt, weil ihre Eltern ihr Leben nicht geregelt bekommen. Sie versucht, so brav und angepasst wie möglich zu sein, damit Mutter und Vater nicht noch mehr Probleme bekommen als die, die sie sich selber einbrocken. Und auch Hendrik tat mir leid, weil er sich aus Verantwortungsbewusstsein oder Feigheit für ein Leben entschieden hat, bei dem alle Beteiligten unglücklich geworden sind.

Unweigerlich fragt man sich beim Lesen, wie wohl das eigene Leben verlaufen wäre, wenn man sich in manchen Punkten anders entschieden hätte. Nur gut, dass man es nicht weiß! Aber wenn sich eine Chance bietet, aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft zu lernen, sollten wir sie nutzen. Genau wie Henrike.

Die Autorin

Hermien Stellmacher wurde 1959 in Leiden, Niederlande, geboren und hatte im Alter von sieben Jahren fest vor, im Afrikanischen Busch als Verhaltensforscher à la Konrad Lorenz zu arbeiten. 1974 zog sie mit ihren Eltern von Amsterdam nach Naila, einem kleinen Ort im Frankenwald. Dadurch war ihr Bedarf an Exotik für den Rest ihres Lebens gedeckt. Sie verabschiedete sich von der Afrikaidee, aktivierte Plan B und bewarb sich mit einer Mappe an der Hochschule für Grafik-Design in Würzburg. Seit Mitte der 90er Jahre illustrierte und schrieb sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher. Seit 2012 schreibt sie hauptsächlich für Erwachsene.
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