Ursula Kirchenmayer: Der Boden unter unseren Füßen. Roman

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Vandam
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Ursula Kirchenmayer: Der Boden unter unseren Füßen. Roman

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Ursula Kirchenmayer: Der Boden unter unseren Füßen. Roman, München 2023, dtv Verlagsgesellschaft, 978-3-423-28313-7, Hardcover mit Lesebändchen, 397 Seiten, Format: 12,3 x 3 x 19,1 cm, Buch: EUR 23,00 (D), EUR 23,80 (A), Kindle: EUR 16,99.

„Wenn Sie noch Fragen haben, Frau Kilian, dann wenden Sie sich ab jetzt bitte an das Amt, das für Frau Meyers neuen Bezirk zuständig ist.“
„Und welcher Bezirk ist das?“
„Das darf ich Ihnen nicht sagen.“
„Bitte?“
„Datenschutz!“

(Seite 372)

Die Berliner Künstlerin und Reiseleiterin Laura Kilian und der Werbetexter Nils Hoffmann, beide um die 30, lernen einander online kennen. Schnell folgt ein persönliches Treffen und noch bevor die beiden sich im Klaren darüber sind, ob sie zusammenbleiben wollen, wird Laura schwanger. „Wir schaffen das“, sagt Nils, obwohl ihm himmelangst vor der Verantwortung ist. Aber sowas sagt man doch als erwachsener Mann, oder? Das wird erwartet.

Wohnungstausch in Berlin

Schon die Wohnungssuche wird zur Nervenprobe. Weder ihre noch seine Wohnung ist groß genug für eine Familie. Und beide brauchen ja auch einen Arbeitsplatz zuhause. Sie erleben, was man eben so auf Wohnungssuche in einer Stadt erlebt. Als sie die Hoffnung schon aufgeben wollen, bekommt Nils das Angebot für einen Wohnungstausch. Eine WG in Mariendorf (Bezirk Tempelhof-Schöneberg) löst sich auf und Manuel und Patrick suchen kleinere Räumlichkeiten. Nils ist spontan begeistert von deren großer Wohnung, nur Laura rümpft die Nase. Die Gegend gefällt ihr nicht, im Haus riecht’s komisch … und überhaupt.

Vielleicht hätten sie weitersuchen sollen, aber Laura ist hochschwanger und irgendwo muss die kleine Familie ja hin. Also ziehen sie um. Damit sind sie schnell fertig. Laura verkauft und verschenkt so gut wie alles, was sie besessen hat und auch Nils bringt für den Neuanfang nicht viel mit. Sie haben keine Küche, kein Bett, nur eine Matratze, kein Sofa – und kein Geld. Durchblick haben sie auch nicht. Laura verpennt total, dass sie ihre alte Wohnung fristgerecht kündigen, vollends ausräumen und renovieren muss. Also zahlen sie bis auf weiteres doppelt Miete.

Der Deal hat einen Haken

O je, dachte ich da, zwei hilflose, traurige Hipster-Gestalten, verpeilt und überspannt, die rein gar nichts auf die Reihe kriegen! Das wird was werden! Es wird auch recht abenteuerlich. Was die Vormieter dem Pärchen nämlich nicht verraten haben: Warum sie wirklich schnellstmöglich aus dem Haus weg wollten, egal, wohin. Im Erdgeschoss wohnt Petra „Peggy“ Meyer eine verwahrloste Frau, zusammen mit immer neuen Leuten von der Straße. Sie ist psychisch auffällig, leidet wahrscheinlich unter paranoider Schizophrenie, und sie ist besessen von der Wohnung im ersten Stock. Dort vermutet sie ihre Tochter. Die allerdings hat ihr das Jugendamt schon vor Jahren weggenommen.

Frau Meyer lässt sich aber nicht davon abbringen, dass das Mädchen im ersten Stock gefangen gehalten und misshandelt wird. Sie geistert mit einem Messer bewaffnet durchs Haus, stößt wüste Drohungen und Verwünschungen aus und tritt Nils und Laura sogar die Wohnungstür ein. Die zwei geraten in Panik und trauen sich kaum mehr aus ihren vier Wänden.

Kollektives Schulterzucken

Was tut man in so einem Fall? Der Wohnungstausch ist nicht mehr rückgängig zu machen. Die Tauschpartner berufen sich auf den Vertrag. Nils und Laura wenden sich wegen der kaputten Tür und wegen Frau Meyers Verhalten an die Hausverwaltung. Die ist recht desinteressiert. Es ist denen ja sogar wurscht, dass im Winter monatelang die Heizung nicht geht. Also, die kann man vergessen!

Die übrigen Nachbarn erklären, dass das mit Frau Meyer schon lange so gehe. Man habe alles probiert: Hausverwaltung, Polizei, Sozialpsychiatrischer Dienst, Rechtsanwalt … selbst die Kontaktaufnahme mit Frau Meyers Betreuer habe nichts gebracht.

Schizophrene Nachbarin? „Da kann man nichts machen“

Gleichgültiges Schulterzucken bei allen Behörden. Der eine verweist auf den jeweils anderen und schickt die Beschwerdeführer im Kreis herum. Ein Polizist spricht wenigstens mal Klartext und sagt, dass solche Probleme nicht lösbar seien, es sei denn, der psychisch erkrankte Mensch würde jemanden ernsthaft verletzen – oder von selbst mit seinem Tun aufhören. Die Damen vom Amt erklären ungerührt, dass Frau Meyers Recht auf Selbstbestimmung Vorrang habe vor der Sicherheit ihrer Mitmenschen. Und sie könnten, wollten und würden in der Angelegenheit nichts unternehmen.

Das ist keine Erfindung der Autorin. Ich kenne ähnliche Geschichten aus dem realen Leben. Solange die Person nicht die Hütte anzündet oder jemanden absticht, kann sie machen, was sie will.

Das Baby kommt zur Welt, und jetzt haben die beiden Angst, Frau Meyer könnte es für ihr Kind halten und entführen. Sie werden immer panischer und hilfloser und verbarrikadieren sich derart in der Wohnung, dass sie erst mit dem Akkuschrauber ein Brett von der Tür entfernen müssen, ehe sie überhaupt zur Wohnungstür rauskönnen. Dafür basteln sie sich eine Vorrichtung, mit der man sich notfalls aus den Fenstern abseilen kann. Das Verhalten des Paares wird immer absurder und sie gehen einander zunehmend auf die Nerven. Und mir als Leserin ebenfalls.

Kommt in die Puschen, Leute!

Ja, ich verstehe ihre Nöte. Es ist bereits schlimm, wenn Nachbarn so anstrengend sind, dass man ihnen am liebsten aus dem Weg geht. Wie belastend muss es erst sein, wenn einer nicht zurechnungsfähig ist und eine potenziell tödliche Gefahr darstellt? Aber Nils und Laura sitzen da wie das Kaninchen vor der Schlange. Sie schreiben Gott und die Welt an und telefonieren. Ja, das schon. Bei diesen Gesprächen wähnt man sich mehr und mehr in Absurdistan. Doch die beiden stellen sich nie ernsthaft die Frage, wie sie aktiv aus dieser Situation rauskommen könnten.

Wollen sie überhaupt zusammenbleiben, wenn sie einander nur noch angiften? Müssen sie in Berlin leben, wenn die Chancen dort so schlecht sind, eine Wohnung zu finden? Ihren Job können sie überall ausüben, wo Platz ist und sie einen Internetanschluss haben. Was spräche dagegen, erst einmal in eine Gegend zu ziehen, in der es einigermaßen günstige freie Wohnungen gibt … irgendwo außerhalb eines Ballungsraums? Einfach dazusitzen und zu warten, bis sich irgendein Amt bewegt, das sich in dieser Angelegenheit noch nie bewegt hat, bringt sie nicht weiter.

Hilflose Helden, bockige Bürokratie

Die Reaktion der beiden ist jedoch aufgrund ihrer familiären Vorgeschichte verständlich: Nils und Laura würden es als Scheitern betrachten, wenn sie nach so kurzer Zeit wieder die Zelte abbrächen und weiterzögen. Und Scheitern gilt in ihren Herkunftsfamilien praktisch als Todsünde. Nils ist ehemaliger Leistungssportler, der seine Karriere an den Nagel gehängt hat und von seinem jüngeren Bruder überflügelt wurde. Der ist mittlerweile ein Star und Nils gilt daheim als Versager. Lauras Familie ist aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern haben wahnsinnig hart gearbeitet, um es zu etwas zu bringen und die Einheimischen womöglich noch zu übertreffen. Auch für Laura ist Aufgeben keine Option.

Das ist alles stimmig und spannend erzählt. Aber hilflose Helden und bockige Bürokratie machen mich nun mal rasend. Ich habe bis zum Schluss durchgehalten und weitergelesen, weil ich wissen wollte, ob und wie sie Frau Meyer loswerden oder ob sie doch die Segel streichen müssen.

Ich konnte das Buch aber nicht als unterhaltsamen Thriller konsumieren, weil es dafür zu nah an der Realität ist. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wo man hier ansetzen müsste, damit diejenigen Hilfe bekommen, die sie benötigen. Eine Antwort auf diese Frage habe ich aber auch nicht. Leider.

Die Autorin

Ursula Kirchenmayer, geboren 1984 in Lugoj, Rumänien, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München. Sie studierte Literarisches Schreiben in Leipzig und gewann zahlreiche Literaturwettbewerbe. Ihre Texte erschienen in Zeitschriften und Anthologien sowie im Rundfunk, u.a. in BELLA triste, poet, STILL und auf SWR2. ›Der Boden unter unseren Füßen‹ ist ihr erster Roman.
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