Ulrike Renk: Fine und die Zeit der Veränderung. Eine Familie in Berlin (Band 4)

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Vandam
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Ulrike Renk: Fine und die Zeit der Veränderung. Eine Familie in Berlin (Band 4)

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Ulrike Renk: Fine und die Zeit der Veränderung. Eine Familie in Berlin (Band 4), Berlin 2023, Aufbau Verlag, ISBN 978-3-7466-3864-5, Softcover, 509 Seiten, Format: 13,6 x 4 x 20,7 cm, Buch: EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„Es geht nicht, dachte [Fine], nachdem das Licht gelöscht war. Wir können nicht zurück nach Berlin. Wir könnten alle drei nicht mehr so leben, wie wir dort gelebt haben – in der Unsicherheit, ohne Geld und … ohne Ordnung. Sosehr die festen Zeiten, die Regeln und Vorschriften sie manchmal ärgerten, so sehr gaben sie ihrem Leben hier auch Struktur. Fine hatte nicht gewusst, wie wichtig das war.“ (Seite 418)

Berlin 1926 ff.: Offensichtlich hat Heinrich, der Sohn des Künstlerehepaars Paula und Richard Dehmel nichts von der unkonventionellen Art seiner Eltern geerbt. Er ist Arzt geworden – und ziemlich spießig. Dass er seine Frau Ulla, eine ausgebildete Graphikerin, einmal für ihre Willensstärke, Kreativität und Unabhängigkeit bewundert und ihr versprochen hat, dass sie auch als Ehefrau und Mutter künstlerisch tätig sein könne, hat er längst vergessen.

Wie sehr es ihn stört, dass Ulla kaum hausfrauliche Qualitäten hat, wird erst klar, als er mit ihr und den drei gemeinsamen Töchtern Fine (*1920), Cornelia (*1921) und Beate (*1924) in einer Wohnung in Berlin lebt. Bisher haben sie meist ein Familienleben auf Distanz geführt und nur sporadisch zusammengewohnt. Heinrich war aufgrund von Studium, Beruf und dem Krieg nie verfügbar.

Die Ehe scheitert

Verändert durch den Ersten Weltkrieg, geplagt von chronischen Schmerzen aufgrund einer Kriegsverletzung und frustriert wegen beruflicher Misserfolge und der Lage der Welt im Allgemeinen, lässt Heinrich seinen Unmut an seiner Familie aus. Vermutlich bedeutet es für ihn eine weitere Schmach, dass er nicht einmal seinen eigenen Haushalt unter Kontrolle hat und es nicht schafft, aus dem chaotischen Freigeist Ulla ein braves, gut funktionierendes Hausmütterchen zu machen. Und weil er ein paar edelmütige aber wirtschaftlich unvernünftige berufliche Entscheidungen getroffen hat, wird jetzt auch noch das Geld knapp.

Ulla ist völlig überfordert mit der Situation. Sie hat keine finanziellen Mittel, kein Personal mehr, keine Ahnung von Haushaltsführung und muss wieder als Graphikerin arbeiten, damit wenigstens ein bisschen was in die Haushaltskasse kommt. Es ist aber niemand da, der in der Zeit auf die Kinder aufpasst. 1927 kommt es zur Trennung und Scheidung. Das macht ihre Lage nicht besser. Heinrich müsste für die Kinder zahlen, tut’s aber nicht. Und weil er in der Pflicht wäre, bekommt sie keine staatliche Unterstützung. Die Wirtschaftskrise erschwert es Ulla zunehmend, Arbeit zu finden.

Kein Geld, keine Zeit, keine Hilfe

Ulla wird zur leidenschaftlichen Kommunistin, weil sie ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen will. Das ist gut gemeint, doch vor lauter politischem Engagement hat sie nun gar keine Zeit mehr für die Mädchen. Die werden meist sich selbst überlassen, kommen in abgetragener Kleidung daher, hungern – was sogar den Lehrern auffällt – und müssen ihre jüngste Schwester mit in den Unterricht nehmen, weil sie sie ja nicht alleine in der Wohnung lassen können.

Die Kinder kennen es nicht anders. Für sie ist das normal. Sie lieben ihre Mutter und machen keinen unglücklichen Eindruck. Fine engagiert sich sogar eifrig bei einer kommunistischen Jugendorganisation und ist überzeugt davon, dass ihre Mutter das Richtige tut. Doch Ullas Vater, der Zahnarzt Manfred Stolte, kann das Elend nicht länger mit ansehen. Dass Ulla jetzt mit einem verheirateten Künstler zusammenlebt – was nichts zur Verbesserung ihrer finanziellen Situation beiträgt – ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Stolte schlägt vor, die Kinder ins private Kinderheim der Familie Sperling in Tabarz/Thüringen zu geben. Stolte und ein paar weitere Familienmitglieder kämen für die Kosten auf.

„Du liebst die Mädchen, das weiß ich. Aber du bist auch ein Freigeist, das warst du schon immer. […] Meiner Meinung nach bist du auf dem falschen Weg. […] Wie falsch er auch sein mag – es ist deine Überzeugung. Aber … unterstützen werde ich das nicht.“ (Seite 348)

„Die Kinder brauchen Sicherheit und Verlässlichkeit. Die kannst du ihnen nicht geben.“ (Seite 349)

Ist das Kinderheim die Lösung?

Tabarz, 1931 ff.: Ulla und die Kinder sind entsetzt. Sie wollen nicht voneinander getrennt werden. Doch als ihre letzte Einnahmequelle wegbricht, muss Ulla einsehen, dass es nicht mehr anders geht.

Großvater Stolte kennt die Leiter des Heims und weiß, dass die Kinder dort gut behandelt werden. Doch für Fine, Cornelia und Beate fühlt es sich an, als würde man sie auf einen fremden Planeten in die Verbannung schicken. In der Tat prallen hier Welten aufeinander. Die strikten Regeln und die liebevolle Strenge des Ehepaars Sperling ist den Schwestern, die bislang auf sich selbst gestellt waren, fremd. Der engagierten Fine ist das hier außerdem viel zu unpolitisch. Sie will schnellstmöglich wieder zurück nach Berlin.

Ullas seltene Besuche bei den Kindern bleiben schließlich ganz aus und auch der briefliche Kontakt wird immer spärlicher. Irgendwann ist das Heim für die drei Dehmel-Schwestern die Normalität. Sie können sich eine Rückkehr nach Berlin gar nicht mehr vorstellen. Das ist ohnehin mittlerweile ein gefährliches Pflaster geworden.

Die Familiengeschichte wird zum Problem

Was im Leben der Kinder nie eine Rolle gespielt hat, nämlich dass sie väterlicherseits jüdische Vorfahren haben, ist jetzt auf einmal ein Problem. Auch wenn sie ihre Familiengeschichte nicht an die große Glocke hängen: Ihre Großeltern waren berühmt und so sind sie sogar im beschaulichen Thüringen Anfeindungen ausgesetzt.

Fine, inzwischen ein Teenager, sieht ihre Träume und Zukunftspläne dahinschwinden. Man ahnt schon, dass sie die Stärke und Widerstandskraft brauchen wird, die den Dehmel-Frauen eigen ist …

Ich hatte ja mit einem fünften Band gerechnet. Ich dachte, dass der Kreis erst dann geschlossen sei, wenn wir Fines Tochter Regina als Romanfigur begegnen. Sie war es, die der Autorin die Familiengeschichte der Dehmels zugänglich gemacht hat. Doch jetzt endet die Reihe mit Band vier. Über Fines weiteren Lebensweg hätte ich gerne noch mehr erfahren. Ich kann mich eben schwer von Romanfiguren trennen, die ich über mehrere Bände hinweg begleitet habe.

Die Perspektive wechselt. Und der Leser wechselt die Seiten

Interessant fand ich, wie sich beim Leser zusammen mit der Perspektive die Loyalität zu den Personen verändert. Anfangs hält man Ullas Verwandte für herzlose Ungeheuer, weil sie ihr die Kinder wegnehmen. Doch je distanzierter die erwachsen werdende Fine ihre Kindheit betrachtet, desto mehr sind wir auf der Seite von Ullas Angehörigen und denken, dass sie zum Wohle der Kinder gehandelt haben.

Ulla und Heinrich wollen auf ihre Weise die Welt zu einem besseren Ort machen und verlieren dabei meines Erachtens die Bodenhaftung. Ihre Töchter, für die sie bessere Lebensbedingungen schaffen möchten, bleiben auf der Strecke. Selbst Fines kindliche Begeisterung für ihre kommunistische Jugendgruppe sieht im Rückblick ein bisschen nach Gehirnwäsche aus. Doch die Eltern der Mädchen sind außerstande, zu erkennen, was sie anrichten. Das ist im Grunde tragisch.

Ihrer Zeit voraus

Ich habe gerne mit drei Generationen der Dehmel-Frauen mitgefiebert, gehofft und gelitten. Und ich hätte mit Vergnügen auch noch eine vierte Generation begleitet. Die Frauen dieser Familie waren ihrer Zeit voraus und hatten es schwer, ihren eigenen Weg zu gehen, vor allem, weil sie es häufig mit erzkonservativen Mitmenschen zu tun hatten. Selbst die damalige Künstler-Boheme hat sich nicht unbedingt durch fortschrittliches Denken und Frauenförderung hervorgetan. Die waren deutlich piefiger als sie selbst geglaubt haben. Das war mir noch nicht bewusst, als ich mich in jungen Jahren mit der Kunst der 1920er und 1930er-Jahre beschäftigt habe. (Das hätte interessante Diskussionen gegeben!) Man lernt eben stets dazu – nicht zuletzt durch das Lesen bewegender und sorgfältig recherchierter Romane.

Die Autorin

Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de
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