Felicitas Fuchs: Hanne. Die Leute gucken schon, Band 2 der Mütter-Trilogie, Roman

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Vandam
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Felicitas Fuchs: Hanne. Die Leute gucken schon, Band 2 der Mütter-Trilogie, Roman

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Felicitas Fuchs: Hanne. Die Leute gucken schon, Band 2 der Mütter-Trilogie, Roman, München 2023, Wilhelm Heyne Verlag, ISBN 978-3-453-42620-7, Klappenbroschur, 599 Seiten, Format: 13,7 x 4,6 x 20,6 cm, Buch: EUR 15,00 (D), EUR 15,50 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

„[Hanne] war in Ruinen aufgewachsen […]. Sie hatte Flammenhöllen gesehen […], Angst, Hunger und Kälte hinter sich. All das war in ihr. Vielleicht war sie deshalb oft so hartherzig ihren Kindern gegenüber. […] Sie hatte nie gelernt, tiefe Bindungen zu Menschen aufzubauen. Wie auch? In den Lungenheilstätten hatte sie immer nur für ein paar Monate dieselben Leute um sich gehabt, und wenn sie wieder nach Hause gekommen war, war sie unter den anderen Kindern eine Fremde gewesen.“ (Seite 504/505)

Minden 1951: Endlich! Der Krieg ist nur noch eine verdrängte Erinnerung. „Nach vorne schauen“ heißt die Devise, auch für Minna Volkening, Mitte 40, und ihre Tochter Hanne. Von Männern hat die zweifach geschiedene Schneiderin Minna erst einmal die Nase voll. Wenn es für ihre Tochter und sie wieder aufwärts gehen soll, wird sie mit ihrer Hände Arbeit dafür sorgen müssen.

Wirtschaftswunder – doch nicht für alle

Minna fängt nicht das erste Mal von vorne an. Wenn ich richtig mitgezählt habe, ist das jetzt das dritte Mal. Eine bescheidene Mietwohnung und eine kleine Änderungsschneiderei müssen für den Anfang reichen. Wer Band 1 gelesen hat, weiß, was die Schneiderin auf dem Kasten hat und welche Erfolge sie einst bei Düsseldorfs Reichen und Schönen gefeiert hat.

Ganz allein steht Minna zum Glück nicht da. Sie hat ihren Bruder Karl Wolf, den dichtenden Arbeiter, und ihre Freundin Fannie Winter, eine Sinteza, die im KZ ihre gesamte Familie verloren hat. Fannie verbietet sich, zurückzublicken und steckt all ihre Kraft in ihren beruflichen Erfolg. Und den hat sie – als Schaustellerin auf Jahrmärkten mit immer größeren und spektakuläreren Fahrgeschäften. Doch nie wird sie vergessen, wie Minna ihr in der Nazizeit geholfen hat. Wenn bei den zwei Volkening-Damen Not an der Frau ist, können sie stets auf Fannie zählen.

Jetzt müsste es eigentlich für Minna bergauf gehen. Die Leute haben wieder ein bisschen Geld und einen enormen Nachholbedarf in allen Lebensbereichen. Doch es kommt anders. In den folgenden zehn Jahren erkranken Minna und ihre Tochter immer wieder an offener Tuberkulose und sind abwechselnd monatelang in irgendwelchen Lungenheilstätten. Auch wenn sich die Krankheit stets wieder so weit bessert, dass sie als „nicht mehr ansteckend“ entlassen werden, hat das dramatische Konsequenzen.

Eine Krankheit mit weitreichenden Folgen

Die Leute fürchten sich vor einer Ansteckung und meiden Minnas Schneiderei. Hanne, die ohnehin nie besonders kontaktfreudig war und seit dem Tod ihrer Schwester Luise geradezu unnatürlich brav und angepasst ist, um niemandem Kummer zu bereiten, verliert durch die ständigen Klinikaufenthalte den Anschluss in der Schule und versäumt in ihrer Jugend entscheidende Entwicklungen. Freundschaften? Ausgehen? Spaß haben? Flirten? Gegen die Mutter rebellieren? Alles Fehlanzeige! Für ihr Alter wirkt sie sehr bieder und naiv.

1960: Das verklemmte Getue der damaligen Zeit ist da auch nicht hilfreich. Da kann die lebenserfahrene Fannie sagen, was sie will: Mehr Aufklärung als die Drohung: „Komm mir bloß nicht mit einem Kind nach Hause!“ lässt Minna ihrer Tochter nicht angedeihen. Mit dem verklausulierten Geschwurbel in den Bibliotheksbüchern kann das Mädchen nichts anfangen. Freundinnen, die sie fragen könnte, hat Hanne nicht und „Tante“ Fannie wird sich hüten, sich einzumischen. So ist es kein großes Wunder, dass Hanne dem erstbesten Kerl auf den Leim geht, der sich für sie interessiert.

Minna lässt sich nichts gefallen

Was soll ich drumherum reden? Wir haben ja im ersten Band schon erfahren, dass es Romy gibt, Hannes Tochter. Deren Erzeuger macht sich nach vollbrachter Tat aus dem Staub und Hanne verschweigt aus Scham seinen Namen. Das bedeutet, das Kind muss ohne väterliche Unterhaltszahlung auskommen, das Geld wird knapp und die Volkenings haben permanent das Jugendamt im Nacken. Aber nicht mit Minna! Mit detektivischem Spürsinn begibt sie sich auf die Suche nach dem Kindsvater …

Hanne kann anstellen, was sie will: Sie kommt einfach nicht auf die Sonnenseite des Lebens. Ihre temperamentvolle und extrovertierte Tochter bleibt ihr fremd. Das wird nicht besser, als Romy in die Pubertät kommt. Ständig fliegen die Fetzen. Romy wird aber auch sehr eingespannt in der familieneigenen Kneipe und Pension. Und schon als Dreizehnjährige muss sie sich um ihre gesundheitlich angeschlagene Oma kümmern und ihr praktisch den Haushalt führen.

Ein brisantes Familiengeheimnis

Was wird erst los sein, wenn eines Tages herauskommt, wer Romys leiblicher Vater ist? Hanne wird den Teufel tun und ihr das sagen. Minna nimmt zwar immer wieder Anlauf, traut sich dann aber doch nicht. Doch auf Dauer wird sich dieses Familiengeheimnis nicht bewahren lassen.

Das ist kein Thriller, hier gibt’s keine Mordfälle aufzuklären – hier passiert „nur“ das pralle Leben. Doch die Story um die Volkening-Frauen entwickelt einen derartigen Sog, dass man einfach nicht aufhören kann zu lesen.

Felicitas Fuchs macht kein Geheimnis daraus, dass die Mütter-Trilogie auf der Geschichte ihrer eigenen Familie basiert. Und weil hier mehrheitlich real existierende Menschen agieren, treffen die auch mal zweifelhafte bis haarsträubende Entscheidungen, die sich aber stets durch ihre Vorgeschichte erklären lassen. Als Leser:in möchte man oft schreien: „Nein, tu‘s nicht!“ Doch für die handelnde Person fühlt es sich gut und richtig an, genau das zu machen, was wir für bekl*ppt halten. Ja, und dann macht sie’s halt. So ist das Leben. Da ist die Autorin nicht schuld.

Eine Zeitreise mit enormer Sogwirkung

Wie wird es nun weitergehen mit Romy und Hanne? Ich bin gespannt! Vor allem wüsste ich gerne, was noch hinter dem „Pakt“ steckt, den Minna mit einer anderen Person geschlossen hat. Ihr Bruder Karl wird ja nicht müde zu betonen, dass sie sich damit strafbar gemacht hat. Ich sehe nur ein bisschen Gemauschel aber keinen Gesetzesverstoß, vermute jedoch, dass wir Leser:innen nicht alles darüber wissen. Was da wohl noch ans Licht kommt …?

Die Autorin hat intensiv recherchiert – familiengeschichtlich und zeitgeschichtlich – und großen Wert auf kleine Details gelegt. Für mich, die ich im selben Alter bin wie Romy und die Autorin, war das eine tolle Zeitreise zurück in die 1960er und 1970er-Jahre. Ob das jetzt die Trockenhaube war, die Mode, das Fernsehprogramm, die Einrichtung oder die Haartönung, ständig dachte ich: „Ja, genau! So war das bei uns daheim auch!“

Das wird im nächsten Band, wenn wir Romy auf ihrem weiteren Lebensweg begleiten, vermutlich genauso sein. Das will ich erleben! Und natürlich will ich dabei sein, wenn Hanne & Co. das Familiengeheimnis krachend um die Ohren fliegt.

Die Autorin

Felicitas Fuchs ist das Pseudonym der Erfolgsautorin Carla Berling, die sich mit Krimis, Komödien und temperamentvollen Lesungen ein großes Publikum erobert hat. Schon bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie als Reporterin und Pressefotografin immer sehr nah an den Menschen und ihren Schicksalen. In ihrer dramatischen Familiengeschichte verarbeitet sie autobiografische Elemente zu einer packenden Trilogie über drei starke Frauen.
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