Erna Pinner: Curious Creatures. Seltsame Geschöpfe der Tierwelt

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Vandam
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Erna Pinner: Curious Creatures. Seltsame Geschöpfe der Tierwelt

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Erna Pinner: Curious Creatures. Seltsame Geschöpfe der Tierwelt, OT: Curious Creatures, aus dem Englischen von Erna Pinner, Bonn 2022, Weidle Verlag: ISBN 978-3-949441-05-9, Hardcover, 300 Seiten mit 152 s/w-Illustrationen von Erna Pinner, Format: 13 x 2,4 x 20,4 cm, EUR 30,–.

„Jetzt schreibe ich das Buch „Curious Creatures“ wirklich selbst und es frißt mich vollkommen auf. Bin bei Kapitel sieben. Das ist fast die Hälfte, etwa achtzig Seiten und siebzig verschiedene Tiere, darunter die Schnecke und ihr Hermaphroditismus … und alles auf Englisch!“, schreibt Erna Pinner 1946 an einen Freund. (Seite 294)

„One-Woman-Show“ aus den 50er-Jahren

Doch, es stimmt, was da oben in den bibliographischen Angaben steht: Text, Zeichnungen und Übersetzung sind von Erna Pinner. Dieses Buch ist quasi eine One-Woman-Show. Die deutsche Künstlerin Erna Pinner (1890-1987), die in London gelebt hat, hat es nicht nur illustriert, sondern, weil der Autor, der dafür im Wort war, seine Texte nicht geliefert hat, schließlich auch selbst geschrieben. Auf Englisch! Und ohne Zoologin zu sein! Sie schreibt zwar an einer Stelle, sie habe Biologie studiert, aber ob sie wirklich auf einer Universität war oder sich ihr umfangreiches Wissen über die Tiere, die sie so gerne und meisterhaft zeichnete, nur angelesen hat, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen.

1951 ist CURIOUS CREATURES in Großbritannien erschienen. In den 50er-Jahren hat die Autorin ihr Werk selbst ins Deutsche übersetzt. Paul Zsolnay hat es dort 1955 unter dem Titel WUNDER DER WIRKLICHKEIT herausgebracht. Dass der Text ein paar Jahre auf dem Buckel hat, merkt man ihm schon an. Dass die Autorin überwiegend Englisch sprach, „hört“ man ebenfalls ein bisschen. Ihre Übersetzung wurde für diese Ausgabe nur behutsam korrigiert. Ich denke, das sollte man wissen, ehe man drauflos liest.

Vielleicht wäre es hier wirklich angebracht, auf Seite 273 mit dem Lesen zu beginnen – mit Barbara Weidles hochinteressantem Nachwort über das Leben Erna Pinners. Ich will ja nicht behaupten, dass die Entstehungsgeschichte des Buchs faszinierender ist als das Buch selbst. 😉 Aber beim Lesen der Lebensgeschichte dieser außergewöhnlichen Frau dachte ich manchmal, Erna Pinner könnte glatt eine Figur aus einem Roman von Ulrike Renk sein.

Eigenartiges aus der Welt der Tiere

Jetzt sollte ich aber langsam zum Inhalt kommen, oder? Es geht hier also um seltsame Geschöpfe der Tierwelt und um Merkwürdigkeiten der Natur. Einige dieser Tiere hat Erna Pinner sicher bei ihren Reisen durch die Welt zu sehen bekommen, andere hat sie in Zoos studiert und manchmal stammt ihr Wissen wahrscheinlich auch aus zweiter Hand.

Wir begegnen Spinnen, die Falltüren bauen, sogar mit Scharnieren, um an ihre Beute zu kommen, Krabben, die auf Bäume klettern und Käfern, die in Gemeinschaftsarbeit tote Tiere wie Vögel oder Kleinsäuger regelrecht beerdigen. Wir sehen, wie Fische und Amphibien Beutetiere fressen können, die größer sind als sie. Am Stück, wohlgemerkt!

Wir entdecken Spinnennester, die wie Taucherglocken funktionieren, Tiere, die mit dem Hinterteil atmen und solche, bei denen die Männchen den Nachwuchs austragen. Wir sehen Vögel, die ihre Eier von der Sonne oder der Wärme in einem selbst gemachten Komposthaufen ausbrüten lassen und Wesen, die ihr Leben lang im Larvenstadium verharren und sich standhaft weigern, erwachsen zu werden. Solche kennen wir sicher alle, aber im diesem Fall ist der Axolotl gemeint, ein mexikanischer Lurch.

Sonderbare Arten der Fortpflanzung

Wir erfahren einiges über die gegenseitige Abhängigkeit von Tieren und Pflanzen, über Tiere, die Pflanzen fressen – und über Pflanzen, die Tiere fressen. Gibt’s auch. Nicht zu vergessen, Tiere, die erfolgreich Mimikry betreiben und zu ihrer Tarnung aussehen wie Blätter, Zweige oder Blüten. – Faszinierend sind natürlich Exoten wie Schnabeltier und Schnabeligel, also Säugetiere, die Eier legen. Und Schnecken haben eine bemerkenswerte Art der Fortpflanzung. Was alles nix ist gegen manche Stabschreckenarten, die ganz ohne Männchen auszukommen scheinen.

Wir treffen auf fliegende Säugetiere, von denen die meisten nur gleiten und eigentlich nur eine Art richtig fliegen kann, und wir begegnen den Giganten der Tierwelt. Wale und Gorillas, okay. Aber bei Insekten, die die gewohnte Größe überschreiten, bin ich doch froh, dass sie hier sicher zwischen zwei Buchdeckeln aufgehoben sind!

Warum manche Vogelarten das Fliegen aufgegeben und es irgendwann „verlernt“ haben, erfahren wir ebenfalls. Manche leben sehr gut damit, anderen wurde diese Entwicklung irgendwann zum Verhängnis. Wie das alles zusammenhängt, zeigt und erklärt uns Erna Pinner. Und es gibt tatsächlich keine Kaiserpinguine in Zoos?

Der lauteste Vogel der Welt und andere Merkwürdigkeiten

Im letzten Kapitel, EINE PARADE DER KURIOSITÄTEN, werden noch ein paar Tierarten vorgestellt, die nicht in die vorigen Themenbereiche gepasst haben. Tatsächlich ist mir da ein Vogel untergekommen, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Was durchaus erstaunlich ist, weil er als lautester Vogel der Welt gilt: der Glockenvogel. Ich habe mir sein Geschrei im Internet angehört. Na, servus! Gut, dass der in Südamerika wohnt! :-D

Aus dem Inhaltsverzeichnis: Der Kampf um Nahrung • Allerlei Nester • Väterliche Brutpflege • Wassertiere, die Luft atmen • Tiere und Pflanzen • Was nicht alles aus einem Ei schlüpft • Vierfüßler, die fliegen • Giganten der Tierwelt • Das Oberste zuunterst • Camouflage • Symbiose und Parasitentum • Insekten mit sonderbaren Körperformen und Lebensgewohnheiten • Vögel, die nicht fliegen können • Eine Parade der Kuriositäten

Wundern und staunen

Für mich waren nicht alle Erkenntnisse neu, ich beschäftige mich ja auch schon seit Jahrzehnten mit den Skurrilitäten der Tierwelt. Doch so, wie uns die Autorin im lockeren Plauderton vor Augen führt, was die Natur alles Seltsames hervorgebracht hat, kann man nicht umhin, sich zu wundern und zu staunen. Und man liest’s ja nicht nur – man sieht die Wunder ja auch in den Illustrationen.

Normalerweise würde ich meckern, weil die verschiedenen Beiträge oft ohne Leerzeilen oder Zwischenüberschriften aneinander geklemmt sind. Eben ging’s noch um Kormorane, zack, sind wir beim Pinguin. Da haben wir heute andere Seh- und Lesegewohnheiten. Wir sähen die Seiten gern ein bisschen lockerer gestaltet. Also ich zumindest. Aber ich gehöre ja selbst zu den „Buch-Machern“ 😉 und verstehe, warum hier maximal Platz für einen Absatz war.

In einer Pressemitteilung erklärt der Verleger Stefan Weidle:

„Wir hatten keine Originalzeichnungen und mußten aus der englischen Ausgabe scannen (…) Da diese (…) gerastert sind, konnten wir sämtliche Abbildungen nur in 100 % Größe drucken, um jeglichen Anflug von Moiré zu bannen. Das im deutschen Text, der ja länger läuft als der englische, hinzukriegen, war nicht immer einfach, stundenlang saßen wir bastelnd (…) am Rechner.“

Abbildungen wegzulassen, wie Zsolnay es in den 50er Jahren gemacht hat oder dem Buch mehr Seiten zu geben, war für den Verlag keine Option.

CURIOUS CREATURES ist eine unterhaltsame und informative Entdeckungsreise durch die Wunder der Tierwelt aber auch durch das außergewöhnliche Leben der Autorin. Und einen kleinen Einblick ins Büchermachen gab‘s obendrein.

PS: Auf den Seiten 202/203 scheinen mir die Bildunterschriften vertauscht zu sein.

Die Autorin, Illustratorin und Übersetzerin

Erna Pinner (1890-1987) war als Zeichnerin, Illustratorin und Autorin in den 1920er Jahren eine bekannte Künstlerin. Gemeinsam mit dem Schriftsteller Kasimir Edschmid unternahm sie zahlreiche Reisen: in Europa, Palästina, Syrien, Libanon, Südamerika, Südost- und Südwestafrika. 1931 erschien ihr Buch „Ich reise durch die Welt“. Zu ihrem Freundeskreis gehörten u.a. Else Lasker-Schüler, Renée Sintenis, Gabriele Tergit und Gottfried Benn.

Im Herbst 1935 emigrierte die Frankfurterin aus jüdischer Familie nach London. Dort begann sie ab 1936, beruflich als Illustratorin Fuß zu fassen.
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