Ulrike Renk: Ursula und die Farben der Hoffnung. Roman

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Vandam
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Ulrike Renk: Ursula und die Farben der Hoffnung. Roman

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Ulrike Renk: Ursula und die Farben der Hoffnung. Roman. Band 2 der Reihe „Eine Familie in Berlin“, Berlin 2022, Aufbau Verlag, ISBN 978-3-7466-3764-8, Softcover, 466 Seiten, Format: 13,1 x 3,9 x 20,4 cm, Buch: EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A), Kindle: EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.

Entrüstet setzte sich Ursula auf. „Natürlich bin ich mir sicher, wohin mich mein Weg führen soll. Ich will Illustratorin werden.“ – „Gut“, sagte Großmutter und setzte sich lächelnd in ihren Sessel am Kamin. „Dann mach das doch.“ (Seite 321)

Wenn das die Geschichte der Dichterfamilie Dehmel aus Berlin ist – beziehungsweise Hamburg-Blankenese, wo Paulas Ex-Gatte Richard mit seiner zweiten Ehefrau Ida wohnte –, wieso ist die Heldin dieses Romans dann eine Arzttochter aus Wuppertal, die unbedingt vom Zeichnen leben will? – Geduld! Das klärt sich.

Ursula will nichts als zeichnen
Potsdam 1911: Ursula Stolte, 15, ist mit Mutter und Schwester bei den Großeltern zu Besuch. Stiefvater Fritz und die kleineren Geschwister sind zuhause in Vohwinkel (Wuppertal) geblieben. An Omas Klatsch mit ihren Freundinnen, die am kaiserlichen Hof zu tun haben, hat Ursula kein Interesse. Lieber zeichnet sie die Damen. Eigentlich sieht man sie nie ohne ihren Skizzenblock, was bei ihrer Verwandtschaft verständnisloses Kopfschütteln auslöst.

Mit ihren künstlerischen Ambitionen schlägt Ursula in dieser konservativen Familie aus der Art: Großvater ist Bürgermeister von Potsdam, ihr biologischer Vater Arzt und ihr Stiefvater Führungskraft im Familienunternehmen. Abgesehen davon, dass die Frauen ein bisschen Klavier spielen dürfen, hat diese Sippe mit Kunst nicht viel am Hut. Dass Ursula auch noch Synästhetikerin ist und Gefühle als Farben wahrnimmt, ist das Tüpfelchen auf dem i. Das kapiert hier keiner!

Begegnung mit Paula Dehmel
Durch ihre Großmutter lernt Ursula die Dichterin Paula Dehmel sowie deren Töchter Vera und Liselotte kennen. Von ihnen fühlt sie sich verstanden. Die Dehmels sind offen für alles Künstlerische und haben Erfahrung mit komplizierten Familienverhältnissen. Paulas Tochter Vera, fünf Jahre älter als Ursula, wird zu deren bester Freundin und ein bisschen auch zum Vorbild. Sie ist so erwachsen, selbstbewusst und spontan – und sie studiert Kunst! Das könnte Ursula auch gefallen.

Ein bisschen unheimlich sind ihr die „verrückten“ Künstler schon, zu denen Vera sie mitschleppt. Paula Dehmel ist ja ein Schatz und wird schnell zu einer Art Ersatzmutter für Ursula – und zu ihrer ersten Auftraggeberin. Vor ihrem wortgewaltigen und groben Ex-Mann Richard hat das Mädchen allerdings Angst und der Kunststudent Georg Groß, später bekannt als George Grosz, wechselt erschreckend schnell die Stimmungen. Eben noch nett und freundlich, genügt ein falsches Wort und er wird zornig, laut und gemein. Das ist anstrengend und nicht sehr angenehm.

Eine aufregende neue Welt
Rügen, Sommer 1912: Ursulas „Feuertaufe“ kommt, als Vera sie, während ihre Familien an der Ostsee Urlaub machen, überredet, mit ihr für zwei Tage nach Rügen zu fahren. Dort verbringen ihre Künstlerfreund:innen in wechselnder Besetzung den Sommer in einem allmählich verfallenden Gutsverwalterhaus. Man weiß nie genau, wer gerade da ist. Georg Groß wahrscheinlich, Heinrich Vogeler, Else Lasker-Schüler vielleicht ...

Die zwei Tage auf Rügen verlaufen herrlich chaotisch: ungezwungen, unkonventionell, amüsant und inspirierend. Ursula wird schnell akzeptiert. Die Urlaubsgäste feiern, flirten, diskutieren und machen sich einen Spaß daraus, sich mit den staubigen alten Klamotten aus dem Haus zu verkleiden. (Das hätte ich gerne miterlebt!)

Ursula sieht ihren Weg
Einer der schrägsten Vögel ist Tetjus Tügel, zu dem Vera Dehmel eine besondere Beziehung hat. Auch, wenn ein dramatisches Ereignis dem Ausflug ein trauriges Ende setzt: Für Ursula waren die zwei Tage ein Erfolg. Jetzt weiß sie, was sie will. Sie möchte Gebrauchskunst machen, also zum Beispiel Bücher, Zeitungen und Plakate gestalten. Für „Ausstellungskunst“, denkt sie, habe sie der Welt zu wenig zu sagen. Aber dieses Künstlervolk, das ist absolut ihre Welt!

Berlin, 1914: Ursula plant, an der Staatlichen Lehranstalt des Kunstgewerbemuseums von Berlin zu studieren und für die Zeit ihrer Ausbildung in Potsdam bei den Großeltern zu wohnen. Die Familie stimmt zähneknirschend zu. Es ist ihnen klar, dass sich die Zeiten ändern und Frauen jetzt mehr Möglichkeiten haben als noch vor zwanzig Jahren. Dass es eine gute Idee ist, wenn eine Frau ihren Lebensunterhalt selbst verdienen kann und finanziell unabhängig ist, leuchtet ihnen ebenfalls ein. Sie haben ja erlebt, dass Ehen nicht unbedingt ewig halten.

Zukunftspläne
Im Frühjahr 1914 geht das Studium los und Ursula meistert es ganz wunderbar. Bei Dehmels geht sie ein und aus, als gehöre sie zur Familie. Zwischen ihr und Veras Bruder, dem Medizinstudenten Heinrich, knistert es. Leider ist er verlobt. Zwar würde er die einfältige „Gretel“ lieber heute als morgen loswerden, aber er kriegt den A*** nicht hoch, um das Trennungsgespräch zu führen. Lange schaut Ursula sich das nicht mehr an! Doch dann geschieht etwas, das alle Zukunftspläne zur Makulatur macht: Der Erste Weltkrieg bricht aus. Was wird jetzt aus den Hoffnungen und Träumen der jungen Künstler:innen? Alles zu Ende?

Es ist spannend und interessant, Ursulas Weg vom braven Bürgertöchterlein mitten hinein in die Künstler-Bohéme zu verfolgen. Ein Selbstfindungsprozess der besonderen Art, der zur damaligen Zeit sicher nicht selbstverständlich war.

Eine wilde Patchworkfamilie
Hatte ich in Band 1 noch eine Riesenwut auf den egozentrischen Fremdgänger Richard Dehmel und seine Ida, ist diese jetzt verpufft. Richard ist ruhiger geworden, Ida erweist sich als genau die Partnerin, die zu ihm passt und Paula und die Kinder haben sich mit den beiden arrangiert. Das ist jetzt einfach eine große, wilde Patchworkfamilie und Ursula ist mittendrin. Wenn sich keiner der Beteiligten mehr über Richard aufregt, warum sollte ich ...? Mein neues Feindbild ist Ursulas Schwager Helmuth. So ein arroganter Spießer! Also, echt jetzt!

Ich habe den Roman in Rekordzeit gelesen und mich nur dadurch ausgebremst, dass ich voller Neugier im Internet nach weiteren Informationen über die Personen gesucht habe. Ida Dehmel sah ja toll aus und war eine faszinierende Erscheinung! Wie kamen Richards Kinder nur auf die Idee, sie „Isi“ zu nennen? Meine Vermutung, dass sie eigentlich Isidora geheißen haben könnte, hat sich nicht bestätigt. Das Haus der Dehmels in Blankenese steht noch und man kann es sogar besichtigen. Ich habe mir Idas Perlenarbeiten angesehen und natürlich Ursulas Zeichnungen. Am Schluss hatte ich das seltsame Gefühl, die Menschen in diesem Buch wirklich zu kennen.

Wie geht’s weiter?
Ein wenig habe ich bei meinen Internetrecherchen schon „gespoilert“ und ahne im Ansatz, was auf Ursula noch zukommen wird. Ich freue mich schon darauf, es von der Autorin bald ausführlich erzählt zu bekommen.

Die Autorin
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Familiengeschichten haben sie schon immer fasziniert, und so verwebt sie in ihren erfolgreichen Romanen Realität mit Fiktion. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Australien-Saga, die Ostpreußen-Saga, die Seidenstadt-Saga und zahlreiche historische Romane vor. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de
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