Hinter der Mauer

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rosurio
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Registriert: Di 15. Nov 2005, 23:55
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Hinter der Mauer

Beitrag von rosurio »

Hinter der Mauer

Irgend etwas hinderte ihn, nach Hause zurück zu kehren. Er war lange umher geirrt, gehetzt von unsichtbaren Meuten. Seit er geflohen war, hatte sich die Welt nicht mehr verändert. Scheinbar im Drehen stehen geblieben, vergass sie auch ihre Farben und verwandelte sich in ein stumpfes Farbgemenge aus Schwarz-Weiss-Tönen.

Er war inzwischen gealtert. Sein Haar war grau geworden, und durch sein Gesicht zogen sich tiefe Falten, Falten der Angst, des Alters und der tiefen inneren Trauer, die mit dem Verstreichen der Jahre immer leiser und dumpfer geworden war. Selbst sein Name war ihm entfallen. Er hörte ihn schon seit langem nicht mehr, seit langem rief man nicht mehr nach ihm, man braucht ihn nicht mehr, man vermisst ihn auch nicht.

Ohne Blick starrte er die Strasse hinunter, und je weiter er blickte, umso dunkler wurde sie.

Wo war er eigentlich? Zu fragen war ohne Sinn, er wusste es doch nicht, und ihm lag wenig daran, den Ort seiner unendlichen Einsamkeit bezeichnen zu können.

Vor ihm lag ein kalter und leerer Stein, ein Stein, mit dem er sich auf eine seltsame Weise verbunden fühlte, der ihn eine kleine, fast unbedeutende Vertrautheit fühlen liess. Er musste darüber lächeln. Langsam liess er sich auf das kalte verregnete Strassenpflaster nieder, er hob den Stein sanft wie eine Blume zwischen seine Hände und begann ihn sacht, ganz zärtlich zu streicheln.

Schon spitzte er die Lippen, um ihm Trost zuzusprechen, als er innehielt und sich verstohlen umsah. Niemand beachtete ihn, doch er hatte verlernt zu sprechen. Die Laute, die seine Lippen formten, blieben ihm im Halse stecken, und er versuchte es nicht ein zweites Mal.

Ohne Wut stiess er den Stein gegen die Mauer. Er wunderte sich nicht, dass sie nicht einstürzte. Zu vieles hatte er schon vergeblich unternommen, um sie wegzublasen, zu oft war ihm der Atem weg geblieben. Er hatte begonnen, sich hinter ihr geborgen zu fühlen, sie war ihm vertraut geworden auf die selbe Weise wie der Stein.

Er hatte sie auch selbst erschaffen, damals, als er jung war.
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