Dirk Radtke - Vergeltungsschlag

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stöpsel
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Dirk Radtke - Vergeltungsschlag

Beitrag von stöpsel »

Autor : Dirk Radtke
Titel : Vergeltungsschlag Die Aufzeichnungen des Tobias B.
Verlag : Periplaneta Edition Totengräber
Erscheinungsdatum : 2010
ISBN-13: 9783940767578
ISBN-10: 3940767573
Seitenanzahl : 352

Klappentext:
In einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen ist es gestern zu einem Amoklauf gekommen. Dem Polizeibericht zufolge hat der 17-jährige Gymnasiast Tobias B. die grausame Bluttat im eigenen Elternhaus begonnen, wo er zunächst seinen Vater, dessen Lebensgefährtin sowie seine ein Jahr ältere Schwester mit gezielten Kopfschüssen aus einer Handfeuerwaffe tötete. Danach führte ihn der Amoklauf zu seiner Schule, wo er scheinbar gezielt Schüler aus verschiedenen Klassen aufsuchte und erschoss. Auch einen Lehrer soll der Amokläufer getötet haben. Augenzeugen beschreiben das Vorgehen wie eine Hinrichtung. Die Polizei geht davon aus, dass die Bluttat, bei der 13 Menschen starben, bereits lange im Voraus geplant war. Laut Zeugenaussagen war der Täter ein eher stiller, unauffälliger, in sich gekehrter Mensch. Niemand der Befragten hätte ihm eine solch grausame Tat zugetraut. Ungeklärt ist bislang noch das rätselhafte Ende der Tragödie, bei dem der Täter ein Buch vorgezeigt und den Ausruf Hier steht alles drin! getätigt haben soll, bevor er sich mit einem Schuss in den Kopf selbst richtete.


Dieses Buch handelt NICHT von einem Amoklauf, vielmehr erzählt es die Geschichte des Entstehens. Erzählt wird der Tag vor der Tat, dazwischen Rückblenden beginnend mit der Zeit, als Tobias 7 Jahre alt ist. Bis dahin verbrachte er eine normale Kindheit, doch dann machen sich seine Eltern beruflich selbstständig und das Familienleben verändert sich. Mangelnde Zeit und die Bevorzugung seiner Schwester Sarah schieben Tobias immer mehr ins Abseits, ihm wird für alles die Schuld zugewiesen, fast immer unberechtigt. Sein Vater leidet unter Stress, fängt mit Alkohol an und beginnt, Tobias zu verprügeln. Tobias wehrt sich nicht, er ist das perfekte Opfer, auch für seine Schwester und seine Klassenkameraden, die ihn verhöhnen und erniedrigen. Der Satz : „WARUM HAST DU DICH NICHT GEWEHRT?“ zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Geschildert werden diverse Situationen der physischen, aber hauptsächlich psychischen Quälereien, die Tobias ertragen muss, aber auch das Fehlverhalten von Jugendamt, Polizei, Lehrern und Mitschülern. Wegschauen, Ignoranz und Unverständnis ermöglichen die weitere Verletzung einer Kinderseele, die systematische Zerstörung bis zum äußersten.

Mit einer gewissen Ungläubigkeit über das Verhalten der Angehörigen, des Umfeldes und zeitgleich mit dem unguten Gedanken, dass sich dies tatsächlich überall an jedem Ort, in jeder Familie so oder ähnlich abspielen kann, habe ich dieses Buch nahezu in einem Rutsch gelesen. Stellenweise jedoch musste ich es zur Seite legen, da die Schilderungen der grausamen Behandlung dieses Jungen doch erschütternd waren. Fast verständlich ist sein brutaler Ausbruch, nachvollziehbar seine Ausweglosigkeit. Er war nicht nur Täter, er war auch Opfer. Opfer seiner Familie, seiner Schulkameraden und den zuständigen Behörden. Man liest von den Taten eines Amokläufers und den leider oft tödlichen Folgen auch für unschuldige Menschen, aber kaum etwas über die wirklichen Beweggründe des Täters. Es ist nicht so, dass nur die mediale Verführung wie PC-Spiele oder Filme einen Menschen zu solchen Taten bewegt, es ist auch das Verhalten der Mitmenschen. Es gibt letztendlich keine Rechtfertigung für einen Amoklauf, aber auch nicht immer nur den einen Schuldigen.

Normalerweise schreibe ich ja keine Rezensionen, aber dieses Buch ist für mich eine Ausnahme. Meiner Meinung nach hat Dirk Radtke die Verzweiflung und die vermeintliche Ausweglosigkeit eines jungen Menschen, der fast sein ganzes Leben nur gedemütigt,erniedrigt und demoralisiert wurde, hervorragend beschrieben. Er hat ein heikles und reales Thema aufgegriffen und verständlich gemacht, wie ein ganz normaler Junge zu einem unkontrollierten Täter werden kann. Auch, dass er den Amoklauf als solches nicht weiter aufgreift, erfordert meinen Respekt, da die Realität Winnenden oder auch Erfurt noch nicht wirklich aus unseren Köpfen verschwunden ist.


Ich würde mir wünschen, dass sehr viele Menschen dieses Buch lesen und darüber nachdenken, wie sensibel sie mit Ihrem Umfeld umgehen. Wegschauen ist einfach, die Augen aber öffnen und auch entsprechend zu reagieren, das erfordert Mut und Zivilcourage. Jedes Kind kann ein „Tobias“ sein und es liegt an jedem einzelnen von uns, Kinder und Jugendliche vor einem Schicksal wie das in diesem Buch beschriebene zu beschützen.
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