Ingrid Zellner: Rattenweihnacht. Kriminalroman

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Vandam
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Ingrid Zellner: Rattenweihnacht. Kriminalroman

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Ingrid Zellner: Rattenweihnacht. Kriminalroman, Reutlingen 2023, Oertel + Spörer Verlag, ISBN 978-3-9655-5150-3, Softcover, 243 Seiten, Format: 11,7 x 2,2 x 18,7 cm, Buch: EUR 13,00, Kindle: EUR 9,99.

Der Titel lässt es schon erahnen: Mit besinnlicher Weihnachtsstimmung ist in diesem Buch nicht zu rechnen. Und richtig: In Buchelfingen, einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, sitzt an einem kalten Dezembertag eine verstörte Frau, viel zu leicht angezogen, auf einer Bank am Spielplatzrand. Die kleine Emma Geiger hat Mitleid mit der frierenden Fremden und schenkt ihr ihren Schal.

Wer ist die Frau ohne Gedächtnis?

Als die Frau auf keine von Emmas freundlich-neugierigen Fragen eine Antwort weiß, nicht einmal auf die nach ihrem Namen, ist das empathische Mädchen völlig durcheinander. Hier geschieht etwas ganz und gar Unfassbares und die Erwachsenen müssen etwas dagegen unternehmen! Emma gibt der Unbekannten den Namen Maria, weil sie mit ihrem langen blonden Haar der Mutter Gottes auf ihrem Adventskalender ähnelt, und überredet ihre Mutter, die verwirrte Frau mit nach Hause zu nehmen.

Kristina Geiger, Emmas Mutter, ist nicht begeistert von dieser Idee. Wer weiß, wen man sich mit dieser Person ins Haus holt? Eine Kriminelle? Eine Psychopathin? Das ist alles denkbar. Aber in der Kälte sitzen lassen können sie die Dame auch nicht. Angebote, sie zur Polizei oder ins Krankenhaus zu bringen, lehnt „Maria“ ebenso vehement ab wie eine Untersuchung durch Hausarzt Dr. Menke, einem Freund der Geigers. Die Hilfe eines Psychotherapeuten würde sie unter Umständen in Betracht ziehen. Aber einen DNA-Test machen um vielleicht auf diesem Weg identifiziert werden zu können? Auf gar keinen Fall!

„Maria“ ist nicht sehr kooperativ

Die Familien Geiger und Menke müssen das notgedrungen akzeptieren. Wer weiß, was Maria alles durchgemacht hat? Sein Gedächtnis verliert man ja nicht wie einen Hausschlüssel. Also wird sie Gast bei Geigers – und ruckzuck zum Dorfgespräch. Die Hinzuziehung der Polizei lässt sich nun nicht mehr vermeiden, doch Maria erweist sich da als ebenso unkooperativ wie gegenüber den Ärzten. Ist das einem Trauma geschuldet oder hat sie etwas zu verbergen?

Ja, wie geht das jetzt weiter? Bei Familie Geiger kann sie nicht dauerhaft bleiben, auch wenn Emma sie als eine Art Tante quasi „adoptiert“ hat. Gegen ihren Willen kann man Maria aber weder in ein Krankenhaus noch in die Psychiatrie bringen. Dorfpfarrer Stocker hat zum Glück die rettende Idee. Maria kann offenbar gut kochen, und die Biber-Brüder – zwei schrullige Junggesellen um die 50 – könnten nach dem plötzlichen Verschwinden ihrer Mutter eine Haushaltshilfe gebrauchen. Sie haben sich ihr ganzes Leben lang in allen Alltagsdingen auf ihre Mama verlassen und sind jetzt völlig hilflos.

Als Haushälterin zu zwei alten Grantlern

Dass die Biber-Brüder seit Wochen anonyme Drohbriefe bekommen, in denen ihnen nicht nur „rohe Weihnachten“ gewünscht wird, macht sie noch unleidlicher als sie ohnehin schon sind. Lustig wird’s bei denen also nicht werden. Aber Maria hat keine Wahl und zieht zu den beiden ins Haus. Dort hat sie’s, wie erwartet, nicht leicht. Gunnar und Leander Biber kommen mit niemandem aus, nicht einmal miteinander. Jetzt haben sie mit der armen Maria einen Sündenbock für alles, was ihnen nicht passt.

Ja, gut, auch die Brüder haben Schlimmes erlebt. Kein Wunder, dass sie so gestört sind. Vor Jahrzehnten ist ihr Vater unter nicht restlos geklärten Umständen gewaltsam ums Leben gekommen. Von ihrem jüngeren Bruder haben sie seit ewigen Zeiten nichts mehr gehört und jetzt wird auch noch ihre Mutter vermisst. Hat sie sich aus dem Staub gemacht, weil sie es nicht mehr ertragen hat, für die zwei alten Grantler die Dienstmagd zu geben? Hat sie sich das Leben genommen? Ist sie eines natürlichen Todes gestorben oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Man weiß es nicht.

Nicht nur Polizeidirektor Otto Berger hat den Eindruck, dass sich in diesem kleinen Dorf die mysteriösen Vorkommnisse auf erstaunliche Weise häufen.

Ein Geistesblitz mit Folgen

Inzwischen ist sich Mareike Menke, die Frau des Dorfarzts, sicher, dass sie Maria von früher kennt. Leider kann sie sich nicht daran erinnern, wann und wo sie ihr schon mal begegnet sein könnte. Sie wühlt sich durch ihre alten Fotoalben. Ist Maria vielleicht ihre Schulkameradin Ramona? Eine gewisse Ähnlichkeit besteht. Jetzt müsste man nur wissen, ob Ramona vermisst wird.

Mareike sucht unermüdlich weiter, blättert, vergleicht und recherchiert – und dann hat sie auf einmal einen Geistesblitz. So spontan, wie ihr dieser Einfall kommt, so spontan handelt sie auch. Ob das so klug ist …?

Wer ist hier Täter, wer ist Opfer, wer ist Maria? Ach ja: Und auf wessen Seite stehen eigentlich wir als Leser:innen? Denken und fühlen wir alle so moralisch einwandfrei wie die kleine Emma? Eher nicht. Aber das darf gern jeder selbst erleben und beurteilen.

Weihnachtskrimi: spannend, raffiniert und gemein

Es ist so schön böse, wie sich die Leute hier abmühen um Weihnachtsstimmung zu verbreiten und das Fest der Liebe zu feiern, während sich in ihrer unmittelbaren Umgebung die fürchterlichsten Dinge abspielen. Und das ist nicht erst so, seit die geheimnisvolle Maria im Dorf aufgetaucht ist. Da hat man etliche Jahre weggeschaut.

Am Schluss, wenn der Leser alle Zusammenhänge kennt, denkt er garantiert, Mensch, darauf hätte ich doch kommen müssen! Wenn bei ihm der Groschen trotzdem nicht früher fällt als bei den Einwohnern von Buchelfingen, liegt es unter anderem daran, dass man von der Autorin zwar Hinweise bekommt, aber meist zu einem Zeitpunkt, an dem man sie noch gar nicht einordnen kann. Ich lese in so einem Fall weiter und vergesse unterwegs, dass die beiläufige Bemerkung von vor -zig Seiten genau jetzt das entscheidende Puzzleteil wäre. Und ich denke, genau das ist der Plan. 😉

RATTENWEIHNACHT ist spannend, raffiniert und gemein – jahreszeitlich passend aber denkbar unbesinnlich. Das ist ein Krimi für Leute, die mal ’ne Pause brauchen vom medialen Weihnachtskitsch.

Die Autorin

Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München. Freiberufliche Tätigkeit u.a. als Übersetzerin (Schwedisch) und Autorin sowie als Schauspielerin. Bevorzugte Reiseziele: Skandinavien, die Arktis und Indien. Mitglied bei den Mörderischen Schwestern e.V., www.ingrid-zellner.de
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