Die verlorene Gesellschaft - Prolog und 1. Kapitel

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steini276
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Die verlorene Gesellschaft - Prolog und 1. Kapitel

Beitrag von steini276 »

Die verlorene Gesellschaft
Widmung:
Für meine Familie, Freunde und Alle, die sich die Mühe machen, meine Worte auszulegen und somit zu Solchen werden.
Prolog – Das Dilemma mit der Macht
Ein absonderlicher Schlag von Menschen saß dort oben auf der Spitze der Bergkette, um über die Fragen des Lebens zu debattieren. Man erzählte mir damals, dass so später einmal die weltverändernden Entscheidungen getroffen werden. Meiner Kenntnis nach starb jeder, der das ernsthaft glaubte oder war nur endgültig verrückt geworden. Anfangs hoffte man noch, dass die geballte Rede, mehr konnte, als nur der Kompromiss der Unwissenden zu sein. Ein Irrglaube wie sich herausstellte! Waren wir noch nicht bereit dazu? Oder würde das System niemals bereit sein? Unabhängig davon wie man diese Fragen zu beantworten vermag, glaube ich dennoch, dass es sich lohnt zu hören, was wir damals sagten und zu sehen wie es endete.
Die Meisten sitzen in einem Halbkreis zusammen. Alle mehr mit sich selbst beschäftigt, als mit ihrer Umwelt, der Gemeinschaft oder den einzelnen Leuten, die sie vertreten sollen. Sie denken, sie sitzen nicht willkürlich zusammen und haben eine Sitzordnung. Es sich zur Maxime machen, Leidensgenossen zu finden, sich dann mit ihnen zu zahlreichen Interessenverbänden zu organisieren, um dann über alles zu streiten, heißt ab heute Ordnung. Der Zwang alles zu ordnen, nennt sich Politik. So sollte auch die Sitzverteilung wohl bedacht sein. Links und rechts außen, sitzen diejenigen, dessen Meinung so abwegig ist, dass sie sich wohl gedacht haben, dass solche die zwischen ihnen sitzen, den Mittelweg der Vernunft einfach gehen müssen, wenn er sie anspringt wie ein tollwütiges Tier. Vor dem Halbkreis, der mit steigender Bevölkerungszahl eher zu einem Ganzkreis mit kleinem Ausschnitt wird, gibt es ein paar weitere Sitzreihen. In der Mitte auf einer leichten Erhöhung sitzt der Gesprächsleiter. Er und wer sonst wäre besser geeignet, achtet darauf, dass die nächste Ordnung eingehalten wird. Die Gesprächsordnung. Um ihn herum sitzen die derzeit Mächtigsten oder jene, die sich nur dafürhalten, wer weiß das schon. Sie haben natürlich auch eine eigene Ordnung und aufgrund dieser blinden Ordnungsliebe gibt sich der ganze Sitzkreis auch noch eine. Nun aber genug davon und das Plenum kann tagen.
„Meine sehr verehrten Volksvertreter, Vertreterinnen und auch alle anderen des Volkes“, der Gesprächsleiter guckte den Hang hinunter, herab auf die vielen Zuschauer, die ihn zwar nicht hören konnten, ihm aber dennoch ein Gefühl von Macht gaben. Er sprach mit tonvoller Stimme: „Lasst uns heute wenig über die Gemeinschaft schwafeln und viel über das wirkliche Leben debattieren!“ Alle lachten. Er konnte sich selbst ein Schmunzeln nicht verkneifen, zwang sich aber zur Ordnung und sprach gedämpfter: „Wie ich hörte haben wir heute eine offene Frage für das Plenum auf der Liste.“ Alle hoben die rechte Hand, krümmten die drei mittleren Finger auf seltsame Art und Weise und riefen unisono: „Ehre den Sammlern, möge die Sammlung uns führen!“ Der Gesprächsleiter wartete ab, bis auch die letzten Nachzügler ihren Respekt gezollt hatten und ließ den 5. Sammler holen. Nachdem ein gut beleibter junger Mann demonstrativ vor ihn trat, fuhr er fort: „Berichte uns Bote, der du im 5. Siedlungskreis sammelst, was es zu erörtern gibt!“ Der Jüngere sprach mit erhobener Stimme, sodass alle, auch diejenigen, die hinten auf den konzentrischen Mauerringen saßen ihn verstehen konnten: „Die Frage lautet: Was ist Macht?“ Eine eigentümliche Frage dachte man für sich. Wo sonst die Fragen eher detaillierte Einzelschicksale behandelten, hinter denen Anliegen des Volkes steckten, war diese Frage ungewöhnlich abstrakter Natur. Nach kurzer Pause durchbrach ein Mann der Mitte das nachdenkliche Schweigen und skandierte: „Wahrlich eine Frage des Volkes!“ Er ließ den Ausruf zunächst einmal so stehen, um das rituelle „Lang lebe das System!“ abzuwarten, was wie immer im Chor erklang. „Ich denke ich habe einen guten Ansatzpunkt gefunden, um den Diskurs in Gang zu bringen. Ich sage: Macht ist Wissen. Zu wissen wie man eine Gesellschaft lenkt, ihre Handlungen steuert und sie sich zunutze macht.“ Sofort kamen kritische Zwischenrufe von der linken Seite: „Aber ist es nicht genau das, was wir hier Tag ein Tag aus zu ergründen versuchen und stets auf Neue debattieren müssen?“ Es gab Applaus aus der linken Seite für diese zutreffende Feststellung. Sodann erhob sich eine Frau der rechten Seite: „Aber wie kann Macht das Wissen sein, dass wir stets aufs Neue suchen müssen. Was bringt uns dieses Wissen, wenn wir es nicht nutzen können?“ Zustimmendes Gelächter breitete sich wie eine Flutwelle über die rechte Seite und die weit nach hinten gehenden Sitzreihen aus. „Auch das Wissen was wir noch nicht besitzen, kann wertvoll sein. Man muss nur den Schlüssel dazu weitergeben! Die Auslegung dieses Wissens wird es sein, die die Menschen wahrlich mächtig macht.“, konnte man eine deutliche Tenorstimme sagen hören, doch nicht wirklich verorten von wo diese kam. Das verstanden sie alle nicht und hörten stattdessen lieber dem nächsten Schreihals aus der Mitte zu. „Ihr redet einseitig und verkennt das offensichtliche!“ maulte er, „Macht ist die geballte Rede, das Plenum, unser Schaffen. Denn nur wer sich austauscht und zu Kompromissen übereinkommt, der wird am Ende richtige Macht erlangen, da keiner sich betrogen fühlt.“ Da grölte eine erzürnte junge Frau von der linken Seite: „Wie könnt ihr es wagen so etwas auch nur anzudeuten! Die Macht liegt beim ganzen Volke! Nicht nur bei uns!“ Langsam zeichnete sich leichte Verunsicherung im Sitzkreis ab. Dadurch das langsam auch die anderen das Vorbringen des Vorredners in Tiefe verstanden hatten, wurde ernstes Gemurmel laut. Es zog sich durch die Sitzreihen bis hin zur rechten Seite, auf der die meisten das genaue Gegenteil von Verunsicherung in ihrem Gesicht trugen. Manche von ihnen riefen: „Wir sind das Volk!“ Von neuer Willensstärke angetrieben stand der Redner der rechten Seite auf. Derjenige, der zuvor noch so vernichtend geschlagen wurde, probierte sein Glück erneut. „Sachte werte Kollegin, sicherlich wollte der gute Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft nur sagen, dass Macht nur existieren kann, wenn wenige sie haben. Sonst ist es eine Macht über das Nichts. Das ihr auf der anderen Seite des Lichts davon nichts versteht, überrascht mich allerdings.“ Zügig aber wohl bedacht, erwiderte die junge Frau: „Welch Ironie, dass ihr gerade uns als dunkle Mächte wahrnehmt, wo doch ihr die Kriege gegen die Anderen schürt. Und Krieg“, sie hob ihre Handfläche und machte wieder das seltsame Fingerzeichen „Krieg ist wahrlich die Dunkelheit selbst.“ „Lang lebe das System!“ hallte es nun noch etwas lauter durch die kleine Mulde in denen sich die Sitzreihen befanden. „Bewahrt Ruhe währte Kollegen!“ mischte sich der Gesprächsleiter ein, der ja solange nichts gesagt hatte, da wohl alles seine Ordnung hatte. „Eigentlich darf ich aus meiner Position heraus nichts Gehaltvolles beitragen. Die Ordnung sagt es!“ Alle wieder: „Lang lebe das System!“ „Doch kommt es nicht jeden Tag vor, dass auch die rechte Seite teils die Wahrheit spricht.“ Er machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Macht über etwas zu haben heißt, eine Perspektive einzunehmen die außerhalb und über der Sache steht, die beherrscht wird. Hätten wir also alle die gleiche Macht, dann gebe es sie praktisch nicht. Demnach muss es, wenn es Macht gibt auch eine Trennung zwischen der Gruppe geben die sie ausübt und derjenigen die gehorcht.“ Auf einmal hatten alle ein besonderes Interesse an der Debatte gefunden, nicht nur die wenigen die bisher teilgenommen hatten. Sie dachten angestrengt über die Worte des Gesprächsleiters nach, bis der dessen Stimme vorher aus dem Nichts zu kommen schien leise sagte: „Dann ist unsere Ordnung machtlos!“
Diesmal verstanden ihn alle. Alle schwiegen.

1. Periode
Die Gründung


Kapitel 1 – Die Erkenntnis
0 ÄM (10.000 v.Chr.), Süd-Anatolien
I.
Es kam ein warmer Wind in den Tälern auf, als durch das dämmrige Dunkel der Fluss rauschte, aus dem die Fruchtbarkeit des Lebens nur so sprießte. So viele seiner Sippe hatten sich daran versucht, mehr Fische zu fangen und somit mehr Ertrag und Ansehen in der Gemeinschaft zu erringen. Doch gab der Fluss jedem nur das, was er brauchte und manchmal auch mehr, doch dafür letztlich weniger im Leben.
Derjenige der von Ihnen bald weises Fischchen genannt wurde, hatte sich lange auf diesen Moment vorbereitet. Trotz jeder Menge Eifersucht, die in diesem Namen steckten, würde er ihn mit Stolz tragen und dass aus einem Grund den eigentlich nur er selbst verstand. Sein Vater hatte ihm gezeigt, wie er seine Arbeit auch an diesem Tag meistern konnte. Es war überaus kostbares Wissen, auch wenn die Anderen es nicht als solches empfanden. Was er damals noch im Müßiggang erledigt hatte und mithin auch nur wenig erfolgreich, musste er sich in den letzten Mondphasen vollends zu eigen machen. Einen Netzkorb, wie sein Vater ihn nannte, zu winden war keine leichte Angelegenheit. Es bedurfte größter Sorgfalt und noch größerer Geduld eine solche Reuse, wie sie die Anderen nannten, herzustellen. Zunächst musste man zwei Paar, etwa gleich lange und breite Zweige finden und sie in einer rechteckigen, handlichen Form mit Bastfasern oder Brennnesseln zusammenbinden. Auch wenn dies meist schon einige Stunden Suche in den teilweise noch kargen Wäldern forderte, um geeignete Weidenruten oder Haselnussäste zu finden, stand einem die eigentlich schwierige Aufgabe noch bevor. Tage- und wochenlange Flechtarbeiten, ließen einen nur zu oft das Ziel aus den Augen verlieren. „Enger!“, hörte er seinen Vater ihn noch immer ermahnen, wenn er wie so oft damals unter seiner patriarchalen Aufsicht, lustlos und mit Widerwillen webte. „Die Zweige müssen näher zusammen, denn nur so können sie eine Einheit bilden, die entschlossen genug ist einen Fisch zu fangen, aber noch schlau genug das Wasser durchzulassen.“, hatte er stets betont. Es pochte in seinem Kopf das es schmerzte. „Ich verstehe aber nicht, wie sie dann der Strömung standhalten soll?“ gab ich patzig zurück. Auch wenn er die Antwort auf die gestellte Frage schon allzu gut kannte, stellte er sie, nur um an die Kritik der anderen Fischer zu erinnern. „Tuki, ich sage es dir gerne nochmal, aber nur ungern morgen wieder.“ Sein Vater sprach mit einem belustigten Unterton, aber er hatte stets einen Anflug von akademischer Strenge in seiner tiefen Stimme gehabt. „Dadurch, dass du den Netzkorb oder Reuse, wie ihn die anderen Fischer nennen, nur kurzfristig an einer Stelle und regelmäßig waagerecht im Wasser hältst, fließt das geströmte Wasser hauptsächlich um den Netzkorb herum. Das schont die eng geflochtenen Zweige und lässt sie im richtigen Moment für bestmöglichen Ertrag sorgen.“ „Aber das dauert so schrecklich lange.“, erwiderte der Junge. „Die anderen Fischer nutzen diese Harpunenstäbe. Auch wenn diese Art zu Jagen ein gutes Auge erfordert, verspricht si größere Fische wie Hechtbarben oder andere Karpfen. Nicht nur diese kleinen Fischchen, wie sie in Vielzahl in deinen Netzkörben landen. Außerdem können sie auch im tieferen Wasser jagen, weil die Harpunenstäbe der Strömung standhalten.“ Sein Vater guckte ihn Ernst an, womit er ihm zu verstehen gab, dass er falscher nicht liegen konnte. „Mein Sohn, du erkennst den Wert eines Netzes oder Speeres nicht daran, zu welcher Größe sie fähig sind, sondern daran wie sie die Kleinsten aufzufangen vermögen.“ Das war eine der Parolen, die im stets durch den Kopf ging, doch ihm auch heute noch so unglaublich stumpfsinnig erschien, dass er fast über eine Baumwurzel gestolpert wäre, kurz bevor er eine seichte Stelle des Flusses erreichte. Die Luft war ungewöhnlich feucht, als hätte sich der Regen an jenem Tage überlegt aus der Luft zu dringen, statt aus den Wolken. Tuki beobachtete eine Gazelle die teils aus dem Fluss und zur anderen Hälfte aus der Luft zu trinken schien. Wie sie ihren Durst stillte, hatte etwas erhabenes und Einzigartiges, ja schon fast untypisches. Wie er so darüber nachdachte, fiel ihm auf was nicht da war. Andere ihrer Art. Ihre Herde, ihre Gemeinschaft war nirgendwo in dem überschaubaren Tal zu sehen. Wo doch Gazellen gemeinhin in großen Herden umherzogen und gemeinsam ihre tierischen Bedürfnisse stillten, war dieses Exemplar wohl eigensinniger. Tuki watete durch das kühle Flusswasser hin zu dieser Gazelle, um sie näher betrachten zu können. Scheinbar hatte sie eine Anziehungskraft auf ihn und ihre Umgebung. Sie wirkte anmutig, auch wenn sie den Kopf geneigt hielt, während sie trank. Ihre Hörner glänzten anthrazit durch die leichten Strahlen der aufgehenden Sonne. Als sie ihn erblickte und sich ihre Pupillen verengten, sah es so aus als würde sie ihn für einen winzigen Moment mustern, knickte dann ihre Beine ein, um zu dem ersten von wenigen Sprüngen anzusetzen, mit denen sie sich auf und davon machte. Kaum war sie verschwunden, hatte der junge Fischer schon den nächsten Sprössling der Natur im Blick. Ein Kranich flog über dem sich leicht schlängelnden Flussbett und befand sich im Landeanflug. Man sagte es war Trockenzeit. Eine gute Zeit für Kraniche in einem Flussbett, welche sich im Sinne ihres ausgewogenen, dennoch tierischem Bedürfnisses, auf Nahrungssuche nach kleinen Barben oder Rotfedern begaben. Es war ein Jungfernkranich. Er war kleiner als andere seiner Art mit einem nach hinten überstehenden weißen Federkleid. Er hatte eine gräuliche Färbung im Brust- und Halsbereich, welche auf seinem zarten Kopf elegant mit der Weißen zusammenlief. In dem Mittelpunkt des Zusammenflusses saß ein rotes, durchdringendes Auge. War auch er hier um Fische zu fangen, konnte Tuki sich nur wenige Gemeinsamkeiten zwischen seiner Arbeit und dem Schaffen des Tieres vorstellen. Während das Tier wohl nur vom Hunger getrieben das Flussbett aufsuchte, hatte er neben dem Essen noch höhere Ziele im Sinn. Er musste sich beweisen. Aber wem gegenüber? Nun zuallererst in seiner Gemeinschaft, dem kleinen Stamm bestehend aus drei Sippen, welcher 28 Männer, 62 Frauen und 37 Kinder umfasste. Die Sippen waren Zusammenschlüsse aus zwei bis vier Großfamilien, welche meist einer Meinung waren, was die Fragen des alltäglichen Lebens anging. Tuki gehörte wie sein Vater und dessen Vorväter zur Sippe der dayak. Was genau dieser Name bedeutete war ihm unklar, aber sein Vater hatte im einmal erklärt, dass er etwas mit der Arbeit der meisten aus seiner Sippe, dem Fangen von Fischen, zu tun habe. Er machte sich aber nicht viel aus Namen, er selber hatte ja nun offiziell auch keinen mehr und sein Stamm war immer nur „der“ Stamm gewesen. Viel wichtiger war die Anerkennung. Um in seiner Sippe Anerkennung und eine gute Stellung zu erlangen, war es notwendig regelmäßig Ertrag aus seiner Arbeit zu liefern. Eine gute Stellung brachte Gutes mit sich, angefangen bei einem Vorzug bei der Auswahl einer Frau aus den anderen Sippen, bis hin zu dem Privileg zusammen mit dem Stammes- und anderen Sippenführern die nächsten messibah, die großen Festmahle zu ehren der Götter, zu gestalten. Sein Vater hatte kein besonders großes Ansehen in seiner Sippe gehabt. Bis zu seinem Tod vor drei Mondphasen, nachdem auf wundersame Weise alle von ihm als dem bewehrten und ausgezeichneten Fischer sprachen, war er stets für seine ungewöhnliche Art zu arbeiten beäugt worden. Manche sagten ihm bis dato nach, er habe eine rakherukhi Abart, was ein schlimmes Schimpfwort war, dessen Bedeutung der Jüngere noch nicht vollends verstand. Was er auch nicht verstand war dieser Umschwung. Aber er hinterfragte Wendungen zum Guten nicht mehr, auch wenn sie sich noch in die andere Richtung entwickeln konnten. Allerdings folgerte gerade aus diesem Umstand, dass er um das verfälschte Vermächtnis seines Vaters willen, beweisen wollte was in ihm steckt. Dennoch unterschieden sich seine Triebe und die daraus entstandenen Fähigkeiten von denen der Tiere kaum. Auch er hatte Durst und Hunger, woraufhin er sichere Stellen am Fluss zum Wasser trinken suchte wie die Gazelle oder es dem Kranich gleichtat und Fische jagte. Allen ging es um eine sichere Gemeinschaft, Fortpflanzung und am Ende Stand der Tod. Doch war es Gesetz sich von den Tieren abzugrenzen, denn nur die Menschen hatten den Segen der Götter. Also was unterschied ihn von den Tieren? War es die Gemeinschaft? War es die Sprache? Liebe? Was auch immer es ist, darüber nachzudenken schien der Anfang dieses Unterschieds zu sein.
II.
Der Kranich war in seine Arbeit vertieft Fische zu jagen und beachtete nicht wie Tuki mit gekonnten Bewegungen den Netzkorb im Wasser bewegte. Das Wasser war sehr kühl und schmerzte im ersten Moment immer leicht an den Fingern. Der Schmerz dauerte an, bis diese mit der Zeit taub wurden und zu einer Einheit mit der Reuse verschmolzen. Danach ging das meiste wie von allein. Einige wenige Forellen schwammen auf die Reuse zu und der Junge schnitt ihnen geschickt den Weg ab, als zwei von ihnen zur linken Seite des Flusses entwischen wollten. Nach kurzer Zeit hatte sich ein kleiner Haufen Fische auf der sonst so voll mit Moos bewachsenen Uferseite gebildet, an der Tuki regelmäßig den Netzkorb entleerte. Als er gerade die vorerst letzte Forelle aus dem Wasser heben wollte, verlor er sie aus den Augen, da er einen seltsamen Stein durch das kniehohe Flusswasser erblickte. Es war eher ein Bruchstück eines größeren, glatten Steins gewesen, der nicht wie die anderen Steinchen mit der Zeit zu Kies wurde. Er hatte regelmäßige Einkerbungen, die nach längerem Hinsehen vielleicht zu Symbolen werden konnten. Tuki ging zu der Stelle an der das Bruchstück hinter einigen Algen verschlungen auf dem Flussgrund lag. Jetzt konnte er sogar eine leichte rot und schwarz Färbung der Symbole auf dem Stein erkennen. Er hob ihn aus dem Wasser und erkannte eine Art Zelt in den Symbolen am Rande des Bruchstücks. Es hatte waagerechte Seiten und zwei spitzzulaufende Zeltstangen. Sie waren wohl ursprünglich dunkel rot gefärbt, doch durch die Strömung fast farblos geworden. Man konnte nur noch die Überreste einer Harz-Ockermischung und die deutlichen und tief eingeschlagenen Linien erkennen, die im Weiteren ganz klar eine Familie darstellen sollte, die in dem zeltartigen Gewölbe stand und in ihrer Mitte eine Art Stier oder Ziegenbock duldete. Am anderen Ende des Steins waren gezackte regelmäßige Wellen eingeritzt, auf denen man mit viel Fantasie vielleicht Pflanzen erkennen konnte, wohingegen der Mann der neben diesen Pflanzen stand, deutlich zu erkennen war. Er hielt einen komischen dreikantigen Speer in der Hand, welcher nicht sonderlich bedrohlich aussah. Tuki war erstaunt. Erstaunt nicht nur darüber wie all das auf einem gerade mal handgroßen Stein abgebildet sein konnte, sondern auch über die Kraft dieser Symbole. Er konnte sie verstehen, obwohl jemand anders diese irgendwann einmal auf diesen Stein gebracht haben musste. Es war wie eine Sprache ohne Worte, ohne andere Menschen, auch wenn Menschen wohlmöglich ihre Schöpfer waren. Er legte die Symbole aus, was die Menschheit nach ihm verändern konnte. Eine Libelle flog neben seinem Kopf her und riss ihn aus seinen Überlegungen. Er legte den Stein zunächst in den Netzkorb. Stieg dann aus dem Wasser und lud die Fische sowie den Stein am Uferrand in einen Eimer. Schenkte den beiden kleinsten Fischen, welche gerade noch so am Leben waren die Freiheit und machte sich von der Vorfreude getrieben Tando davon zu erzählen, auf den Weg zurück zu seinem Stamm.
III.
Auf dem Rückweg zum Lager seines Stammes durch die morschen Hartlaubgehölze, nahm er plötzlich ein Zischen wahr. Es war weniger das Zischen eines Vogels oder einer Schlange, sondern eher ein Surren, welches kurz und abrupt endete. Darauf folgte ein ähnliches Geräusch und kaum war es zu Ende, bohrte sich ein dünner Stock mit großer Wucht in einen Baum vor ihm. Er hatte eine Spitze aus Stein und enganliegende Federn am anderen Ende. Es war ein Pfeil. Der junge Fischer hatte etwas Gleichartiges schon einmal bei dem Besuch einer fremden Jägersippe bei ihnen im Stamm gesehen. Zu mancher Zeit war es klug, sich mit anderen Sippen zu verständigen oder es zumindest zu versuchen. Welche Routen sicher sind vor Räubern, welche Wege unbegehbar geworden waren, durch Witterung, wilde Tiere oder gefährliche Insekten, konnte von größter Relevanz für das Überleben eines Stammes sein. Die Schamanen verschiedener Stämme konnten ihr Wissen über Naturflüche und die Wahrnehmung der Sterne austauschen, wozu das gut wahr stand wiederum auch in den Sternen. Sammlerinnen und auch Sammler konnten sich über ungenießbare oder sogar giftige Früchte und Pflanzen beratschlagen und Jäger eben ihre Jagdmethoden und Waffen vergleichen. Eben dabei hatte Tuki gehört wie die Jägersippe seines Stammes, die tsayad, sich mit großer Bewunderung die „Bögen“ und „Pfeile“ der fremden Jägersippe ansahen. Der Bogen war wie es der Name schon erkennen ließ ein gebogener Ast, welcher an beiden Enden mit einer Faser verbunden ist. Dieser dient der Speicherung von Energie, wenn man das Pfeilende anlegt und ihn mit der rechten Hand spannt. Diese Art von Waffe eignet sich gut um Beute aus Distanz zu jagen. Eine rakherukhi Art zu jagen, meinten die Kritiker, konnten sie die Überlegenheit dieser modernen Waffe allerdings nicht leugnen. Eine kleine, aber dichte Staubwolke rollte mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu. Sie wurde durch die trockene Luft und die schnell herbeirennenden Männer erzeugt, wovon er einen schon aus einiger Entfernung erkannte. Großer Arm oder Rai wie sein Vater ihn nannte, war einer der tsaír-Jäger aus der tsayad Sippe. Ein kräftiger Kerl im Alter von 17 Jahren, der mit zwei unterschiedlich großen Armen geboren wurde, von denen der Rechte unproportional muskulös zu dem dünneren linken Oberarm war. Sie kamen näher und Tuki sah, dass er in Begleitung einiger anderer hmstr-Jäger seines Stammes war. Sein Innerstes pulsierte und er spürte ein starkes Pochen in seiner linken Brust. Die Vorhut bildete ein älterer Mann, er hatte einen schwarzen Bart welcher am Kinn ordentlich gestutzt war. Außerdem hielt er einen dieser „Bögen“ in der rechten Hand und war nun nur noch wenige Meter von Tuki entfernt. „Stehen bleiben, du Strauchdieb!“ rief einer der älteren hmstr-Jäger seines Stammes. Der Alte der immer viel Wert auf sein gepflegtes Äußeres gab und einen glatten Fellüberwurf und einen Lederunterrock trug, den eine dünne Schnur aus Rindenbast zusammenhielt. Er hatte immer einen abwertenden Blick auf alles und jeden. Dieser Blick war heute intensiver denn je und Tuki schrak zusammen, während ein anderer tsaír-Jäger mit einem Grinsen im Gesicht seine Axt in Stellung brachte. Er kannte ihn. Auch wenn ihm seine Bekanntschaft nie etwas anderes als Schläge eingebracht hatte, da er und die anderen Kinder ihn Narbengesicht nannten. Dass war an sich natürlich keine netter vyyfr für einen noch heranwachsenden jungen Mann, beschrieb sein Gesicht aber äußerst zutreffend. Laut seiner Mutter hatte er sich als kleines Kind mit einer Tonscherbe verletzt, einer fremdartigen festen Masse, die Tuki ebenfalls von den Besuchen anderer Sippen kannte. Shamerani, der Schamane seines Stammes, der der Einzige war der das Recht hatte, sich selbst einen richtigen Namen zu geben, glaubte allerdings nicht an die Geschichte der Mutter über die Verletzung mit diesem widernatürlichen Gegenstand. Er hatte seine ganz eigene Theorie, die er nur allzu gerne jedem erzählte, der sie hören wollte und vorhatte, die nächsten Tage nur über böse Geister nachzudenken. Narbengesicht hatte diese Beleidigungen satt und umso mehr glitzerten seine Augen als er Tuki als den Jungen erkannte, der ihn sowie die anderen Kinder auch, an seine Verwundung vom linken Ohr bis hin zur rechten Seite seiner Stirn erinnerte. Doch war er nicht der Einzige, denn der Alte der ihn zuvor des Diebstahls bezichtigt hatte, krächzte nun mit rauer Stimme: „Verflucht seien sie, diese rakherukhi Dreckskerle! Das ist nur die Waise aus der dayak Sippe.“ „Wenn sie nicht in Richtung des Euphrates geflüchtet sind, werden sie wohl längst, durch einen vor uns verborgenen Weg zurück in ihr schäbiges Loch gekrochen sein! Sie nennen es Siedlung, ich nenne es Scheusal!“, sprach der Mann mit dem gepflegten Bart und spuckte aus. Er hatte diesen „Bogen“ auf dem Rücken befestigt, mit mehreren Schnüren aus einem Material was Tuki nicht kannte. „Ich…ich war nur am Fluss und habe Fische gefangen.“, murmelte Tuki mit zittriger Stimme und zeigte auf den von ihm vor Schreck fallengelassenen Eimer mit Fischen. Den Netzkorb hatte er, ähnlich wie der fremde Jäger seinen „Bogen“ mit Schnüren aus dünnem Leder über den Rücken geschnallt. „Alles gut Kleiner!“ sagte einer der hmstr-Jäger und hob den Eimer mit den Fischen auf, wobei auch der Stein den Tuki in den Eimer gelegt hatte auf den Boden fiel. „Da haben wir dir dann wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt, hoffe du hattest… Oh was ist das?“. Er hob den Stein auf und betrachtete ihn eingängig. „Wo hast du den denn gefunden?“ fragte er mit einem nicht überhörbaren zwielichtigen Unterton. „Der lag auf dem Grund des Flusses. Ein schöner Stein, nicht?“, antwortete Tuki prompt und immer noch angespannt. Der Jäger dachte schwer nach, was man ihm, sowie allen anderen Jägern seiner Sippe immer ansehen konnte. Dann ein betretenes Schweigen erfüllte die schwüle Luft, bis der hmstr-Jäger ihn verschmitzt anlächelte und sagte: „Ja wirklich ein schöner Stein in Kinderaugen, dass er dir nicht kaputt geht, hörst du!“. Er gab Tuki den Stein wieder und ging eilig zurück zu den anderen Jägern. Sie besprachen sich kurz und verabschiedeten sich dann überaus freundlich von ihm. Sogar Nabengesicht brachte ihm gegenüber, ein gezwungenes Lächeln zustande, bevor er mit den anderen in Richtung eines der Hauptjagdgebiete des Stammes verschwand. Auf Tuki´s Gesicht stand statt einer Narbe Verwunderung geschrieben und während er über den Vorfall nachdachte, ging er langsam in Richtung seines Stammlagers, seinem Zuhause, welches er in völliger Aufregung vorfinden würde.
IV.
„Wir haben es aus ihm rausgeprügelt, diesem elendigen Verräter!“ hörte Tuki eine vertraute Stimme unweit des Lagereingangs rufen. Die Stimme kam vom Sippenführer der tsayad, den alle nur gadol tsayak nannten. Tuki rannte schnell zu seinem Zelt, stellte den Eimer ab und rannte wieder zur Mitte des Lagers, wo er auf dem Platz gadol tsayak und einen der jüngeren Fischer aus der dayak Sippe erblickte. Der Junge stammte aus der Familie von navonn dayak, seinem Sippenführer, und lag gefesselt und zitternd vor gadol tsayak auf dem Boden. Die meisten Stammesmitglieder die auch schon von ihrer Arbeit zum Mittemahl zurückwaren, standen in einem Halbkreis um gadol tsayak herum. Tuki reite sich geschickt ein, was ihm aufgrund seiner noch ausbaufähigen Größe mit 15 Jahren, nicht gerade schwerfiel. Er schlängelte sich durch die Reihen der Stammesmitglieder, um eine gute Sicht auf das Geschehen zu erhaschen. „Er hier, dieser Widerling!“, der Sippenführer zeigte auf den mit Tuki etwa gleichaltrigen Jungen, der zu seinen Füßen lag. „Hat dem mit uns zurzeit benachbarten Stamm, diesem rakherukhi Abschaum, genaustens erzählt, wo wir unser mühselig gejagtes Wildfleisch und den hart erkämpften Fisch horten! Unsere Nahrung! Unser Überleben! All das hat der Taugenichts aufs Spiel gesetzt. Wäre diese rakherukhi Abart noch etwas abgebrühter gewesen, als sie es ohnehin schon ist und hätte noch mehr mitgenommen, als sie mit Händen tragen konnten, wären wir nun in noch größerer Not, als wir es ohnehin schon sind.“ Er sprach langsam und äußerst deutlich, sodass jedes Wort in diesem Gewusel seine ganz eigene Wirkung entfalten konnte. Ein stämmiger gut beleibter Mann trat aus dem Halbkreis hervor. Es war navoon dayak, der Vater des Jungen. „Nun halte dich aber mal zurück mit deinen Anschuldigungen, amitt!“, sprach er mit beschwichtigender Stimme. Amitt war eine Art vyyfr den die Sippen- und der Stammesführer untereinander verwenden durften. Es war eine etwas neckische Anrede. „Was veranlasst dich zu solch einer Behauptung, sicher ist sie nur völlig aus der Luft gegriffen wie deine Flugspeere, die nur zu oft ihr Ziel verfehlen!“ „Dass du vortrittst war mir klar navoon dayak, Vater der Schlange!“ sagte gadol und guckte in mit vor Zorn funkelnden Augen an. „Meine Behauptung wie du sie nennst ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich habe den Jungen zusammen mit meinen Lehrlingen, zweien meiner treuen tsaír-Jäger auf frischer Tat ertappt. Er kam aus Richtung dieses rakherukhi Haufens und wollte nach Hause laufen. Wobei er das Recht unseren Stamm so bezeichnen“, er hob ausdrucksvoll die rechte Hand, „mit seinem Verrat verloren hat!“ Die Leute beäugten den Jungen und ein leises Murmeln breitete sich aus. „Wenn du dich hinter deiner Polemik versteckst, ist wie uns die Erfahrung zeigt, meist nicht viel Wahres in deinem Geschwafel, amitt. Vielleicht bekäme es dir besser, weniger in den Rauchschwaden der Schamanen herumzuschnüffeln!“. Einige unterdrückten ein gedämpftes Lachen. Jeder wusste, dass gadol tsayak gerne mit dem Schamanen des Stammes im Rauchzelt saß, indem es durch die Verbrennung gewisser Kräuter, wohl zu einem benebelnden und berauschenden Rauch kam. Dass der Anführer der Jäger auch gelegentlich bei fremden Sippen zu Gast war, um die Unterschiede der diversen Rauchtechniken zu studieren wie er stets betonte, war ebenso bekannt. Doch stellte sich schnell wieder Schweigen ein, weil die Lage doch ernster war, als nur der übliche Zwist zwischen den beiden Sippenführern. Eine leichte Brise kam auf und Tuki erkannte seinen besten Freund, von seinem Vater Tando genannt, auf der linken Seite des Publikums. Er stand neben seinem Vater, einem Werkzeugmacher aus der bineyann Sippe. Seine Mutter und seine beiden Schwestern waren nirgends zu sehen. Er versuchte mit Tando Blickkontakt aufzubauen, doch hatte dieser nur Augen für den jungen Fischer, der immer noch am Boden lag und wieder angefangen hatte zu zittern. „Ich weiß nicht, ob ich mich irre oder ob du nicht auch gelegentlich diesen Sitzungen im Räucherzelt beigewohnt hast, navoon dayak.“, wobei er den Namen wie die Pointe eines Witzes betonte. „Oder ob vielleicht die ganze Brut, deiner inbegriffen hinter diesem Verrat steckt! Aber eines steht ohne Zweifel fest! Diesen Jungen erwartet eine Strafe und wenn wir von Verbannung sprechen, ist dies noch die Milde der Götter!“ Zustimmendes Gemurmel festigte sich unter den Stammesmitgliedern, auch wenn dieses hauptsächlich von Jägern der tsayak Sippe ausging. „Das du bei so viel Geheimwissen keine Angst um dein Leben hast, amitt!“, spottete navoon, „Nur wäre unser Stamm wohl dem Untergang geweiht, würdest du über die Milde der Götter entscheiden, tsayak! Du und die Götter haben so wenig gemeinsam wie ein rakherukhi und ein Krieger.“ Das hatte gadol tsayak erbost, mehr noch er war außer sich vor Zorn. „Vergleiche mich nicht mit diesem widerwärtigen Abschaum, du dreckiger Fischer!“ „Nun hat der dreckige Abschaum wenigstens Manieren und nimmt nur das was er gerade so zum Leben braucht. Im Gegensatz zu dir, der sein Maul nie voll gestopft kriegt und es deshalb täglich aufreißt!“ Gadol tsayak wollte grade auf ihn los gehen, als eine kleingewachsene, aber äußerst muskulöse Gestalt zwischen die beiden Streithähne trat und sie auseinander presste. Es war ha´eleyonn, der Führer seines Stammes. Trotz seiner geringen Größe im mittleren Alter, hatte er eine unglaubliche Aura, die Selbstbewusstsein und Stärke ausstrahlte. Tuki hatte sich als kleines Kind immer gewünscht, so wie er zu werden, wenn er groß ist. Doch wich dieser Traum schon bald dem Wunsch, so zu werden wie navoon dayak. Seine Redegewandtheit und sein Geschick die Stimmung der Stammesmitglieder zu lenken, beeindruckte ihn immer wieder. Zwar war ha´eleyonn auch ein guter Redner, aber nur wenn er lange Zeit hatte um sich auf die Situation und die Thematik vorzubereiten. Navoon dayak hingegen machte keiner etwas vor, wenn es zu hitzigen Streitgesprächen kam, in denen man außer einem rauchenden Kopf im Anschluss, nichts vorhersehen konnte. „Bewahrt ein kühles Gemüt, ehrenwerte Sippenführer! Solch ein Verhalten gebührt nicht dem Rang eurer Stellung.“ Navoon dayak schmunzelte, während gadol tsayak sich nur schwerlich beherrschen konnte. „Ich habe aus der Ferne diese Aufführung beobachtet und denke es wäre zunächst einmal das Beste die persönlichen Fehden aus dieser ernsten Angelegenheit herauszuhalten.“, sprach er mit wohl überlegten Worten und schaute abwechselnd zu den beiden Sippenführern. Er fokussierte sie voll und ganz, während er die anderen Stammesmitglieder ausblendete. „Weise erscheint es mir die Entscheidung über eine Strafe, die zweifelsohne im Raum steht, auf den morgigen Tag, einen Tag des Gerichts, zu vertagen. Die Erfahrung zeigt, dass eine Nacht zwischen Ursache und Wirkung, die Natur in neuer Kraft erstrahlen lässt. Zudem werde ich Zeit haben mich mit shamerani über die Angelegenheit zu beratschlagen.“ Die Tage des Gerichts die Tuki schon erlebt hatte konnte man an einer Hand abzählen. Wann ein solcher Tag war, konnte nur der Stammesführer bestimmen. Es gab auch Tage der Götter, mit denen es Shamerani sehr viel strenger handhabte, als ha´eleyonn es mit seinen Gerichtstagen hielt. Der Schamane hatte bestimmt, dass am Anfang und am Ende jeder Mondphase ein Tag der Götter abzuhalten sei. An diesem durfte man nicht arbeiten, musste seinen Tag den Göttern widmen und verschiedene zeremonielle Akte mit dem Schamanen und seinen drei Gehilfen den meshareto shel hassatan, die man auch kurz mesha nannte, vollziehen. Manchmal war es ganz amüsant, wenn nicht grade dem Gott der Jagd oder der Herrschaft gehuldigt wurde. Tage des Gerichts waren nie lustig. Sie waren immer von Streit in hitzigen und nicht selten handgreiflichen Wortgefechten geprägt. Auch der morgige Tag versprach demnach solch einer zu werden. „Also meine lieben Schäfchen, meine wehrten Stammesgefährten, wir werden morgen für euch einen Gerichtstag abhalten. Betet zu den Göttern, dass sie uns mit ihrer Weisheit erleuchten und uns ihre Milde zu Teil werden lassen, sodass wir eine humane, aber dennoch gerechte Strafe für den Jungen finden. Sowie die Götter es auch für uns tun.“ Die Menge hatte schon am Anfang seiner Schlussworte, damit begonnen sich in alle Richtungen des Lagers zu verstreuen, um endlich ihr Mittemahl, der einzigen warmen Mahlzeit am Tag einzunehmen, welche bei ihnen gemeinhin die Frauen und Mädchen zubereiteten, als plötzlich ein Schrei zu hören war. Die schrille Stimme gehörte einem Mädchen. Einer jungen Frau die Tuki nicht kannte und die schwer atmend auf den Platz gerannt kam. Sie hatte lange braune Haare, schon äußerst weibliche Züge und musste etwa in Tuki´s Alter gewesen sein. Sie wirkte sehr ausgelaugt und niedergeschlagen, doch nicht nur von der offensichtlichen körperlichen Anstrengung. „Ich kann alles erklären, bitte verschont meinen Liebsten!“, presste sie etwas unverständlich, aber mit tiefer Inbrunst aus ihrer Lunge. „Wer bist du?“ fragte der Stammesführer verwundert. „Ich kenne dein Gesicht nicht. Bist du eine vor mir versteckte Tochter aus der bineyann Sippe?“. „Nein, großer Mann. Ich bin Sara, Tochter von Olf dem Viehzüchter.“, sagte die junge Frau, nun etwas deutlicher und mit konzentrierter Stimme. „Wer bist du?!“, entgegnete der Stammesführer entsetzt. „Das Balg eines „Viehzüchters“?“ Was soll das sein?“. „Es ist eine Arbeit, ähnlich wie ein Jäger oder Fischer sie hat, nur dass er die Tiere bei sich in der Hütte oder auf dem Feld hält und sie nicht jagen muss.“, antwortete sie. „Du erzählst Unsinn dummes Kind. Tiere in seiner Gemeinschaft zu dulden ist unmenschlich. Man muss sie jagen und sich den Göttern gegenüber würdig erweisen, damit sie die Tiere schwächen und man sie erlegen kann.“ Ha´elyonn sprach zügig, aber sehr bedacht, so als müsse er sich gegen eine Ansicht verteidigen, die ihm wohl bekannt war. „Wer seine Beute nicht Jagd, sich nur dem Sammeln und dieser Viehunzucht hingibt oder wie ihr sie auch immer nennen mögt, der verliert seine Ehre. Seine Ehre die in seiner göttlichen Arbeit liegt. Er verweichlicht. Er wird zu so einer rakherukhi Abart.“ Der Stammesführer spuckte aus und der jungen Frau wurde klar, dass ihr Auftreten, die Sache für den jungen Fischer, ihren Liebsten, nicht gerade verbessern würde. Deswegen wollte sie nun nur noch an die Herzen der anderen Stammesmitglieder appellieren, welche sich nun wieder gespannt in ihrem üblichen Halbkreis sortiert hatten. „Bitte habt Gnade mit dem Jungen den ihr beschuldigt. Er hat nichts mit dem Diebstahl zu tun! Er war nur in der Nähe unseres Stammes, weil…“, sie zögerte. „Ja mein Kind?“, zischte der Stammesführer verwegen, „Sprich zu uns!“ Die junge Frau dachte kurz nach und entschied sich zu sagen: „Weil wir uns getroffen haben. Wir lieben uns.“. Sie sprach mit fester Stimme, sodass man die Wahrheit dieser Worte nur schwerlich infrage stellen konnte. Gadol tsayak lachte. Er lachte übertrieben laut und prustete los: „Da haben wir es navoon dayak. Dein Sohn treibt es mit einer rakherukhi Göre und verrät ihr beim Schäferstündchen brüh warm den Standort unseres geheimen Horts! Verrat für eine Liebelei mit einer Abart, widerlich!“ „Aber so ist es nicht gewesen!“ Die junge Frau schrie jetzt. „Mein Volk leidet Hunger in der trocknen Zeit. Da wir ausschließlich vom Ackerbau und der Viehzucht leben, haben wir nur sehr wenig Ertrag diesen Zyklus gehabt. Die Tiere die wir halten, haben noch weniger Nahrung bekommen als unser Stamm, sodass unsere Zucht sich um das Dreifache gemindert hat.“ Sie hatte tiefe Trauer im Gesicht stehen, als sie von den Tieren sprach. „Na da seht ihr es, wehrte Stammesmitglieder!“ mischte sich der Stammesführer wieder ein. „Die rakherukhi führen in ihrer Siedlung ein Leben was die Götter ablehnen und wider die menschliche Lebensweise ist.“ Ha´elyonn hatte sich von der Geliebten des jungen Fischers abgewandt und gestikulierte zur Unterstützung seiner Worte in Richtung des Publikums. Nun wandte er sich wieder der jungen Frau zu. „Und außerdem“, fuhr er sie an, „Was denkst du mit wem du sprichst kleine rakherukhi? Ich als Stammesführer kenne das Leid meines Stammes und die Unannehmlichkeiten die die Trockenzeit uns bringt nur allzu gut! Nicht nur eure Tiere in eurer schändlichen Siedlung verhungern. Auch die Tiere in den kargen Wäldern haben Schwierigkeiten Nahrung zu finden. Der Lebensraum der Fische verkleinert sich, da der Fluss in diesen Zeiten nur wenig Wasser führt. Und so ist es umso schwieriger sie zu finden und zu jagen. Also erzähle mir nichts von der Natur Mädchen, wenn du so fehlgeleitet durch deine Stammesmitglieder bist!“ Tuki fühlte sich durch die Rede des Stammführers an das Getue von gadol tsayak erinnert. „Dennoch sind wir, mein Sohn und ich, um die Diskussion mal wieder auf den richtigen Streitpunkt zu bringen!“ der Sippenführer der dayak trat wieder einmal aus der Menge hervor, „Mitglieder dieses Stammes, wie man wohl schwer bestreiten kann oder ha´elyonn?“ Der Stammesführer nickte stumm. „Und deshalb wird so wie es Gesetz ist, über die Strafe meines Sohnes morgen am Gerichtstag entschieden. Doch kann dabei was diese junge Frau vorgebracht hat, nicht ganz unberücksichtigt bleiben.“ „Irrsinn!“ kamen Rufe aus der Menge auf. „So etwas gab es noch nie!“ rief einer der hmstr-Jäger der tsayak Sippe. Die meisten blieben jedoch still, scheinbar verwundert über solch eine untypische Idee. „Nun denn“ sprach der Stammesführer, um das Gespräch wieder an sich zu reißen, „da wir ihre Schilderung nun kennen, ist es ohnehin nicht möglich, eine Entscheidung ohne Kenntnis über diese Liebesbeziehung und die Lage unserer derzeitigen rakherukhi Nachbarn zu fällen. Dennoch wird die Entscheidung wie es Sitte ist, nur von den Sippenführern, dem Schamanen und meiner Person getroffen werden. Das steht nicht zur Debatte.“ Sitten. Das wahren innerhalb seines Stammes anerkannte Gewohnheiten, die, wie es Tuki vorkam, schon immer da waren. Sein Vater aber hatte ihm erzählt, dass sie sich durchaus ändern konnten, wenn der Stammesführer wechselte. Etwas ganz Ähnliches waren in Tuki´s Augen die Gesetze. Auch wenn sie als unumstößlich galten und von dem Schamanen des Stammes gesetzt wurden, konnte man sich durchaus die Frage stellen, ob nicht auch diese sich verändern konnten, wenn die Person des Schamanen wechselte. „Nun aber genug der Worte!“ sprach der Stammesführer und wollte merklich zu einem Ende kommen, „Wir werden die Angelegenheit wie besprochen morgen klären. Und du Mädchen…“ er stockte denn das Mädchen was grad noch in der Mitte des leicht mit Gras bewachsenen Platzes stand, war verschwunden. Sie hatte es wohl für ratsam gehalten nicht länger in einem fremden Stamm zu verweilen als notwendig und hatte sich flink aus dem Staub gemacht. Sie hatte die Gunst des Augenblicks genutzt, als die Leute so erstaunt über eine Tatsache waren, die bei ihr im Stamm usus war.
V.
Nun verstreute sich die Menge endgültig und ging in ihre Lager, um die leeren Mägen zu füllen. Die unterschiedlich großen Zelte, welche aus langen Holzpfählen mit langen Fällen und Tierhautstücken überworfen waren, boten ein gutes Abbild davon, wie zügig die Lager stets auf und wieder abgebaut worden waren. Doch für Tuki hatte diese Unordnung etwas vertrautes. Er wollte mit Tando reden, den er gerade eben noch gesehen hatte, um sich mit ihm über das gerade Geschehene auszutauschen. Auch wenn Tando nicht der Klügste unter seinen wenigen Freunden war, hatte er doch immer eine ganz andere Sichtweise auf die Dinge, was Tuki sehr an ihm schätzte. Außerdem hatte Tuki keinen mehr der ihm ein Mittemahl zubereiten wollte. Sonst hatte dies sein Vater getan. Seit seinem Tod hatte er regelmäßig bei Tando´s Familie mitessen dürfen, wenn er nicht wie es Sitte war, als Waise zu jedem Neumond bei den Oberhäuptern des Stammes essen durfte. Tando jedoch schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein, sodass sich Tuki wie schon das ein oder andere Mal alleine in einen der noch etwas dichteren Wälder aufmachte, um zumindest ein paar Beeren zu essen. Als er an einigen Sträuchern stehen blieb, die so aussahen, dass die Walderdbeeren die sie trugen, nicht schon von anderen Tieren angerührt wurden, fiel ihm hinter dem Strauch ein Ameisenhügel ins Auge. Die fast fingergroßen schwarzen Ameisen trugen in engen Reihen trockene Erdteile aus ihrer unterirdischen Kolonie, sodass sich langsam ein Hügel bildete. Er war von beachtlicher Höhe und sein Zweck ohne großes Nachdenken erkennbar. Sicherheit. Sowohl vor Fressfeinden zum Selbstschutz, als auch zur Sicherung ihrer gehorteten Vorräte. Beachtlich wie so kleine Wesen nur durch ihre strukturierte Zusammenarbeit großes zum Schutz der Gemeinschaft errichten konnten. Bis Tuki endlich seinen Hunger mit Waldbeeren und einigen Brombeeren gestillt hatte, war schon einige Zeit vergangen. Man erkannte es daran, dass die Sonne schon so weit gewandert war, dass sie genau auf der Höhe stand wie am Morgen.
VI.
Nachdem Tuki wieder im Stammeslager angekommen war, hatte sich die Lage auf dem Platz wieder deutlich beruhigt. Ein wenig zu sehr beruhigt. Navoon dayak lachte ausgelassen mit seinen anderen beiden Kindern, als wäre zuvor nichts gewesen. Es wirkte widernatürlich. Auch die anderen seiner Sippe unterhielten sich über ihre Arbeit oder wer bald verdingt werden sollte. Sogar gadol tsayak saß mit seinen tsaír Jägern in einem Sitzkreis auf dem sandigen Boden. Er predigte lauthals, stets eine zweite Axt in seinem Zelt zu haben, falls die eine am Arbeitstag zu Bruch ginge. Man könne es nicht riskieren einen ganzen Arbeitstag zu verlieren, nur weil man die bineyann Werkzeugmacher um eine neue bitten musste. Tuki verstand auch diesen Umschwung nicht. Doch schien der plötzliche Wechsel der Meinungen in seinem Stamm ja keine Ausnahme zu sein, weswegen er keine Lust hatte, heute noch mehr Eindrücke zu sammeln, an einem ohnehin schon so eindrucksvollen Tag. Er entschied sich früh schlafen zu gehen. Als er das, für sich allein viel zu große Zelt öffnete, indem er einen glatten Tierhautteppich umklappte. Er fühlte sich schlaff und ausgelaugt wie die junge Frau, die heute im Lager gewesen war. Vielleicht waren die Beeren am Strauch neben dem Ameisenhügel, doch nicht so gut wie sie ausgesehen hatten. Das Aussehen ist tückisch, denn es verspricht den Augen etwas, obwohl für die Erfüllung noch Unsicherheit besteht, hatte sein Vater stets gesprochen. Aber Tuki konnte nicht aufhören an die hübsche, junge Frau zu denken. Er legte sich auf sein Fell und dachte über ihr Vorbringen nach. Sie hatte zu Anfang erwähnt, dass sie Sara hieß. Schon das war komisch, da sie sicherlich vergessen hatte zu sagen, dass nur ihr Vater sie so nennen durfte. Die Namensgebung war etwas Göttliches. Eigene richtige Namen hatten nur die Götter, der Schamane, der ja am engsten von allen mit ihnen im Bunde stand und der Sohn eines Vaters, weil diese Beziehung göttlich ist. Allerdings trug der Sohn den Namen nur solange wie der Vater lebte, was auch Sinn machte, weil ohnehin nur der Vater die Erlaubnis hatte, seinen Sohn bei diesem Namen zu nennen. Dass die gleiche Ordnung in der fremden Siedlung der rakherukhi auch galt, stand für Tuki völlig außer Frage. Er erinnerte sich auch, dass sie von ihrem Vater erzählt hatte, der ein Viehzüchter sei. Was das genau war, hatte Tuki trotz der Erklärung von Sara nicht verstanden. Es lag an den vielen ihm unbekannten Wörtern die sie benutzt hatte, um ein ihm fremdes Wort zu beschreiben. Was ist eine „Hütte“ oder ein „Feld“? Als er über dieses schwierige Rätsel nachdachte, fiel ihm der Stein ein, der immer noch im Eimer mit den Fischen liegen musste. Er holte ihn aus dem Eimer unter den Fischen hervor und betrachtete das Bruchstück erneut. Diesmal noch eingängiger als beim ersten Mal. Das Symbol, welches ein außergewöhnlich grades Zelt zeigte mit einem zweiten Zelt darüber, konnte vielleicht so eine Hütte sein. Die Idee kam Tuki, weil die hübsche Sara gesagt hatte, dass ihr Vater eine Arbeit hatte, welche Tiere beinhalte die in seiner Nähe und in seiner „Hütte“ lebten. Das zwischen den Symbolen die Menschen darstellen sollten, auch ein Tiersymbol war, stand fest. Und die Pflanzen draußen vor dieser „Hütte“? War das so ein „Feld“? Tuki dachte noch einige Zeit über die Worte von Sara in Verbindung mit den Symbolen des Steins nach. Es war anstrengend, doch er war nicht länger müde. Er inspizierte den Stein noch genauer und entdeckte auf der Rückseite, welche er vorher nie beachtet hatte, ein seltsames Symbol umhüllt von einem Kreis. Es sah aus wie eine Art Werkzeug. Hätte man solch eine Konstruktion nachgebaut, könnte man feststellen, ob zwei Dinge gleich schwer wiegen oder ob die eine Sache schwerwiegender ist, als die andere. Tando´s Vater, einer der besten Werkzeugmacher des Stammes, hätte sicherlich das Talent ein solches Werkzeug zu bauen. Doch was sollte es einem nützen? In Tuki´s Kopf schwirrten nun viel zu viele Gedanken umher und er hatte es sich zum Ritual gemacht, dann einen kleinen Spaziergang durch das Lager zu machen, nur um danach, von der kühlen Abendluft belebt, besser schlafen und träumen zu können. Also stieg er wieder von seinem Fell auf und verließ sein Zelt.
VII.
Als er heraustrat, warfen die anderen Zelte lange Schatten, die verschwommene Konturen auf dem sandigen Boden bildeten. Die Sonne war kurz davor den Horizont zu verlassen und Tuki ging in Richtung des großen Platzes in die Mitte des Lagers. Die Aufstellung der Zelte folgte keiner Ordnung. Egal ob dayak, tsayak oder bineyann, alle hatten ihre Zelte dort aufgeschlagen wo sie es für richtig hielten und das war gut so. Tuki kannte die Aufstellung schon auswendig, auch wenn das Lager erst seit zwei Mondphasen stand. Er navigierte sich problemlos einen Weg, vorbei an mehreren der tsayak Zelte, die man daran erkannte, dass sie besonders viele Tierhautschichten an ihren Wänden hatten, hin zu dem größten aller Zelte. Es war das Zelt des Stammesführers ha´elyonn und stand vor Kopf am großen Platz. Oben mit hellen Hirschfällen ummantelt und reich mit farbigen zick-zack Mustern verziert, wirkte es bedrohlich wie es so vom schwachen Sonnenlicht beleuchtet wurde. Verbunden mit dem großen Schatten die es warf, hatte es etwas Animalisches trotz der vielen Tiere, die für diese Behausung gestorben waren. Oder vielleicht grade deshalb? Der junge Fischer wählte die Schneise links von diesem düsteren Ungetüm und sah am Ende des Ganges, der wie eine Allee aus Zelten aussah, ein paar dünne Rauchschwaden in den Himmel aufsteigen. Sie kamen aus dem kleinen Zelt was dort hinten stand und trotz seiner geringen Größe irgendwie das Zentrum der Schneise bildete. Es war das Zelt des Schamanen. So war es nicht ungewöhnlich, dass gerade zu dieser Zeit noch ein Feuer im Zelt von Shamerani brannte, an dem gelegentlich auch die anderen Stammesoberhäupter saßen. Es war eine Art Gesprächsort, an dem die Sorgen und Nöte des Stammes besprochen werden konnten, auch wenn dazu meist alle von dem berauschenden Rauch der Kräuter zu benebelt waren.
VIII.
Tuki und Tando hatten ein Geheimnis. Ein Geheimnis, dass nur sie beide kannten und welches sie wie ihren Augapfel behüteten. Denn wäre es herausgekommen, dass im Zelt des Schamanen ein kleines Loch in den Tierhäuten steckte, durch das man gerade so eben durchschauen konnte. Und hätte man herausgefunden, dass Tuki und sein Freund dass des Öfteren ausnutzten, um zu lauschen und zu bespitzeln, hätten sie eine gehörige Abreibung ihrer Väter bekommen. Da viel es Tuki wieder ein. Er hatte keinen Vater mehr. Papa, von seinem Vater Alo genannt, war vor drei Mondphasen gestorben. Zumindest hatten ihm dass die Fischer und Jäger erzählt, mit denen Vater zur akharonah tsayak, der letzten großen Jagd eines jeden Zyklus aufgebrochen war, aber nie mehr zurückgekehrt ist. Nicht einmal seinen Leichnam hatten sie mitgebracht. Tuki hatte fast eine Mondphase lang geweint, bis er sich wieder gefangen hatte, da er begriff, dass das Leben weiterging. Auch oder gerade wegen eines schmerzlichen Verlustes, eines derben Rückschlags. Denn die schöne Erinnerung die blieb, war ein so deutlicher Kontrast zur nackten Realität, dass man das Leben so intensiv spüren konnte wie nie zuvor. Nach seiner langen Trauerphase war das Lager eilig abgebrochen worden, um auf Befehl des Schamanen vor den bösen Geistern, die sich dort nun so zahlreich gesammelt hätten zu entkommen und sich wieder auf die alten Riten der Gemeinschaft zu besinnen. So war das Zelt des Schamanen wie die anderen abgebaut worden. Doch musste es auf eine ganz ähnliche Weise wieder aufgebaut worden sein, denn sonst hätte Tuki nie so schnell das Loch wieder gefunden, durch das er jetzt ins Innere des Zeltgewölbes schauen konnte. Enge war der erste Eindruck den Tuki bekam, als er sah, dass fünf Männer im kleinen Zeltinneren saßen. Durch die leuchtenden Flammen hindurch, war das Gesicht des Schamanen zu erkennen. Mit den weiß-roten Linien im Gesicht bemalt und den zerzausten Haaren konnte er auf den ersten Blick bedrohlich wirken. Er hatte einen Knochenring durch die Nase geführt, was Tuki immer etwas Angst eingeflößt hatte, bis er begriff, dass dies ein einfaches Schmuckstück war, was auch andere Schamanen und Heilkundige trugen. Um ihn herum saßen gadol tsayak, ha´elyonn, tami bineyann und ein älterer Mann den Tuki erst bei genauerem Hinsehen erkannte. Sein gepflegter Bart war ihm in Erinnerung geblieben. Es war der Mann mit dem Bogen, dem Tuki morgens auf so unliebsame Weise begegnet war. „Wir begrüßten deine Ankunft, Fremder von seinem Vater Olfuso genannt. Wer weiß was die rakherukhi noch an sich gerissen hätten, wenn wir sie nicht rechtzeitig aufgescheucht hätten.“, gadol tsayak sprach zu ihm, als wären sie beste Freunde seit Kindheitstagen. „Ich helfe wo ich kann, da ich weiß wie grausam diese rakherukhi Brut sein kann. Den Großteil des Horts meines Stammes haben sie letzten Zyklus leergeräumt, sodass der Großteil unserer Kinder die Kaltzeit nicht überstand. Nur ein toter rakherukhi ist ein guter rakherukhi.“ „Wahre Worte, ohne deine Warnung wären wir ebenso dem Untergang geweiht gewesen!“, sprach der Stammesführer, „Wo lagert dein Stamm zu dieser Mondphase?“. „Wir wandern wie ihr nach den Vorschriften der Sterne in einem dreiphasigen Takt mit vier Lagern im Zyklus. Aber als ich hörte, dass ein neuer Stamm der Nachbar dieser rakherukhi werden sollte, blieb ich zurück um euch zu warnen, leider etwas zu spät „, er sprach sehr langsam, als wenn er Angst hatte etwas Falsches zu sagen. „Mein Stamm ist schon wieder in Richtung Osten aufgebrochen, um dort das harishonn Lager aufzuschlagen.“ „Also geht euer Stamm einer neuen Zyklusordnung nach?“ fragte Shamerani verwundert. Der ältere Mann fühlte sich ertappt, bemühte sich jedoch einen ruhigen Gesichtsausdruck zu bewahren und sagte: „Für uns ist dies der einzige Zyklus den wir je kannten. Wir pflegen für gewöhnlich nicht viele Kontakte mit anderen Stämmen. Unser Schamane möchte die alten Traditionen nicht gefährden.“ „Nur allzu verständlich!“ fuhr im Shamerani ins Wort und Olfuso konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken. „Diese Unsitten der rakherukhi führen nur zur Verwirrung der Geister. Sowohl der Naturgeister, als auch derer unserer geliebten Stammesmitglieder. Sie hatten uns schon vor wenigen Mondphasen erreicht, doch wir dachten wir könnten sie erst einmal abwenden, indem wir unser Lager vorzeitig abbrechen und vor ihnen fliehen.“ „Eine grässliche Angelegenheit ist das gewesen.“, flüsterte áremumi bineyann und guckte tief ins Feuer. Die Stimmung war gedrückt nach diesem Gemurmel. Man konnte die Holzscheide knistern und die kleinen Glimmspäne durch die Luft zischen hören. „Wir müssen morgen gemeinsam mit harter Hand gegen die rakherukhi und folglich auch gegen die vorgehen, welche sich mit ihnen einlassen oder sie unterstützen. Egal wie gutherzig die Absichten des Jungen waren, er muss nun leider als Exempel für unseren Umgang mit der Abart hinhalten. Das ist nicht schön, aber den Göttern zu gefallen, kann Hässliches fordern.“ „So ist es, ha´eleyonn! Wie könnten wir es wagen aus der Ordnung der Götter abzuleiten, was uns Menschen nun menschlicher erscheint! Wir sind nur die Figuren im Spiel der Götter!“. Áremumi bineyann blickte ihn ernst an und dann noch tiefer in die Flammen. „Also ist es beschlossene Sache!“ sprach gadol tsayak und musste sein zynisches Grinsen unter Kontrolle halten. Alle anderen schwiegen. Sie schauten durch den dichter werdenden Rauch, atmeten tief ein und Tuki sah wie das Innere ihrer Augen größer wurde. Es wirkte so als würde sich die Versammlung gleich auflösen, sodass Tuki sich beeilen musste, um nicht noch von einem der Oberhäupter dabei erwischt zu werden, wie er im nächtlichen Lager herumschlich. Er überdeckte das kleine Loch wieder mit einer der Tierhäute und beeilte sich schnell in sein übergroßes Zelt zu kommen. Die Sterne am Firmament über dem Lager funkelten so stark, dass man mit etwas Fantasie das erblicken konnte, was hinter ihnen lag. Tuki dachte gern darüber nach bevor er einschlief. Es entspannte ihn. Er legte sich erneut auf sein Fell und in diesem Augenblick wurde ihm klar, was der Unterschied zwischen den Tieren und den Menschen war. Es ist die Art und Weise wie sie ihre Bedürfnisse befriedigten. Die Körperlichen wie auch das Bedürfnis nach Gerechtigkeit, was letztlich zu Sicherheit führen soll. Ob es nun besser oder schlechter war, nicht wie die Gazelle und der Kranich zum Fluss zu gehen, um Hunger und Durst an der Quelle zu stillen? Sondern es wie die Menschen im Nachbarstamm zu handhaben schienen, sich Felder anlegten und die Quelle der Nahrung zu sich holten. Ob es nun gerecht oder unsicher war, einen Jungen zu bestrafen, der aus Liebe notleidenden Menschen helfen wollte, nur weil er dadurch Untreue bewies? Im Gegensatz zu den Ameisen die alle gemeinsam an einem sicheren Unterschlupf bauten, der am Ende ihrer ganzen Gemeinschaft dienen sollte. Ein Unterschied war es alle mal. Nach dieser Erkenntnis rekelte er sich nicht länger und viel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Ojinaa
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Registriert: Fr 17. Jul 2009, 15:32

Re: Die verlorene Gesellschaft - Prolog und 1. Kapitel

Beitrag von Ojinaa »

Wer soll denn diese "Bleiwüste" lesen? Mach mal ordentliche Absätze!
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