Frauke Buchholz: Frostmond. Kriminalroman

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Vandam
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Frauke Buchholz: Frostmond. Kriminalroman

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Frauke Buchholz: Frostmond. Kriminalroman, Bielefeld 2021, Pendragon Verlag, ISBN 978-3-86532-723-9, Klappenbroschur, 287 Seiten, Format: 13,7 x 2,7 x 20,5 cm, Buch: EUR 18,-, Kindle: EUR 15,99.

„Der Highway 16, der sich über 1.400 Kilometer durch Kanadas Westen erstreckt, hat es zu trauriger Berühmtheit gebracht: Seit Jahrzehnten verschwinden immer wieder vorwiegend junge indigene Frauen spurlos entlang der Bundesstraße, die inzwischen den Beinamen „Highway of Tears“ (Straße der Tränen) erhalten hat. 18 Fälle sind es nach offiziellen Polizeiangaben, doch Amnesty International und indianische Opferverbände gehen von einer weit größeren Dunkelziffer von bis zu 500 vermissten und getöteten indigenen Frauen in ganz Kanada der letzten 30 Jahre aus. Aufgeklärt wurde bisher kaum ein Fall.“ (Aus der Presseinformation des Pendragon-Verlags)

Die Mordserie entlang der „Straße der Tränen“ gibt es wirklich. Die Personen im Buch sind fiktional. Wir erleben die Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven:

Leon Maskisin, Cree-Traditionalist
Der einzige Ich-Erzähler ist der neunzehnjährige Leon Maskisin vom Stamm der Cree, dessen fünfzehnjährige Cousine Jeannette unter den Opfern des Highway-Mörders ist. Der blitzgescheite junge Mann ist Traditionalist und wünscht sich die Zeiten zurück, in der die Weißen noch nicht im Land waren. Dass die Polizei Jeannettes Mörder findet, daran glaubt er nicht. Das Schicksal indigener Frauen ist denen doch wurscht. Die werden den Täter nicht einmal suchen! Wenn der Mörder seiner Cousine zur Rechenschaft gezogen werden soll, dann wird er das schon selbst tun müssen. Und eines ist klar: Mit einer Gerichtsverhandlung wird er sich nicht aufhalten.

Sprechen aus dem jungen Mann vielleicht nur die Wut und die Trauer eines Angehörigen? Oder die Frustration eines Mitglieds einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe? Das ist es nicht allein. Dass Leon Maskisin mit seiner Einschätzung gar nicht so falsch liegt, sehen wir, als wir die ermittelnden Beamten kennenlernen.

Jean-Baptiste LeRoux, Provinzpolizist
Jean-Baptiste LeRoux von der Sûreté du Québec, der Provinzpolizei, macht seinen Job vielleicht schon ein bisschen zu lange. Er hat null Bock auf seine Arbeit, er trinkt zu viel und hat nur Interesse für seine außerehelichen Aktivitäten. Dass ihm sein Vorgesetzter für diesen Fall einen Profiler aus Saskatchewan zur Seite stellt, stinkt ihm gewaltig. LeRoux ist kein Teamplayer. Er keinen gebrauchen, der ihm dauernd auf die Finger schaut.

Ted Garner, Psychologe und Profiler
Und schon gar nicht diesen aufgeblasenen Ted Garner, einen Psychologen, der kein Wort Französisch spricht und alle Welt nur von seinem überlegenen Intellekt überzeugen will. Am Fall der jungen Jeannette Maskisin hat er ebenso wenig Interesse wie LeRoux selbst. Der Wichtigtuer möchte doch nur angeben und dann schnellstmöglich wieder nach Hause fahren!

Jeder hält den jeweils anderen für ein ausgemachtes Ar***l*ch – und beide haben recht. Aber sie sind nicht auf den Kopf gefallen. Wenn jetzt schon extra ein Profiler eingeschaltet wurde, sollten sie zügig ein Ergebnis liefern, sonst stehen sie dumm da. Also versuchen sie, auch wenn es sie gar nicht interessiert, herauszufinden, was in den letzten 11 Monaten mit Jeannette Maskisin geschehen ist. So lange ist es her, dass sie aus dem Niskawini-Reservat verschwunden ist – absichtlich.

Warum sie das getan hat, wird den beiden Polizisten klar, als sie im Reservat ankommen: desolate Familienverhältnisse, keinerlei Perspektive. Da war es das geringere Übel, sich mit etwas geklautem Geld nach Montreal aufzumachen auf der Suche nach ein bisschen Spaß und einer besseren Zukunft. Das hat ja nun beides nicht geklappt.

Wie erwartet zeigen sich die Mitglieder der First Nations nicht besonders kooperativ. Sie haben eben ihre Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Wenn den Ermittlern nicht ab und zu eine nicht gänzlich desillusionierte Seele eine Information zustecken würde, kämen sie überhaupt nicht weiter.

Was weiß der Lehrer?
Zum Glück war Jeannette nicht allen egal. Ihre wichtigsten Bezugspersonen scheinen ihr Cousin Leon und ihr Klassenlehrer Mr. McFallon gewesen zu sein. War dessen Beziehung zu seiner Schülerin vielleicht irgendwie unangemessen? Oder hat er wirklich nur versucht, ein kluges und ehrgeiziges junges Mädchen zu fördern? Der Lehrer mauert und verstrickt sich Widersprüche.

Montreals übelste Ecken
Bei ihren Ermittlungen kommen die beiden Polizisten in die übelsten Ecken von Montreal. Und auch Jeannettes Cousin Leon macht sich auf den Weg in die Stadt. Er bekommt leichter Auskunft von den Mitgliedern der indigenen Bevölkerung als die weißen Polizeibeamten und reimt sich schneller als sie zusammen, wer für den Tod seiner Cousine verantwortlich ist. Doch in der Stadt kann er diese Leute nicht stellen. Da kennen sie sich besser aus als er. Nur in der Wildnis ist er ihnen überlegen …

Ted Garners Profiler-Spürnase führt ihn in eine gänzlich andere Richtung. Und LeRoux‘ Alleingang führt ihn direkt in des Teufels Küche.

Die Geschichte endet ziemlich abrupt. Von einer lückenlosen Aufklärung des Falles kann nicht die Rede sein. Ob da noch was kommt? Wir wissen es nicht. Ein Mistkerl mehr oder weniger würde am Grundübel auch nichts ändern. Da sind wir jetzt so pessimistisch wie die Männer in diesem Roman. Überhaupt bringt uns dieser Krimi dazu, ganz ungewohnte gedankliche Positionen einzunehmen: Auf einmal ertappt man sich dabei, einem mehrfachen Mörder die Daumen zu drücken.

Die im Dunkeln sieht man nicht
Montreal kenne ich nur als Geschäftsreisende und Touristin. Die Schmuddelecken und der Rassismus sind mir dabei verborgen geblieben. Sowas zeigt man ja auch nicht gern. Und jetzt bin ich ein wenig enttäuscht, weil’s da gar nicht so weltoffen und multikulturell zugeht, wie es auf mich den Eindruck gemacht hat. Da die Autorin deutlich mehr Einblick hat als ich, wird es schon so sein, wie sie es beschreibt.

Wer mir ein Rätsel geblieben ist, ist der Profiler aus Saskatchewan. Er bildet sich so viel darauf ein, ein Intellektueller zu sein, redet ständig über Schopenhauer und pflegt gleichzeitig ganz ungeniert seine Vorurteile. Er haut einen politisch unkorrekten Spruch nach dem anderen raus, was sich für mich mit kultiviertem Verhalten nicht vereinbaren lässt. Wahrscheinlich hätte er auch das N-Wort verwendet, wenn sich eine Gelegenheit geboten hätte. Was ist Ted Garner? Ein rassistischer Redneck unter einer dünnen Lasur von Kultur und Bildung? Das habe ich nicht ganz verstanden.

Davon abgesehen ist FROSTMOND ein sprachgewaltiger, packender Kriminalroman, der in einem für uns Leser:innen außergewöhnlichen Umfeld spielt. Er gewährt uns Einblicke in (Gedanken-)Welten, mit denen wir sonst nicht viele Berührungspunkte haben – und er lässt uns nach Beendigung der Lektüre ein kleines bisschen klüger zurück.

Die Autorin
Frauke Buchholz wurde 1960 in der Nähe von Düsseldorf geboren. Sie studierte Anglistik und Romanistik und promovierte über zeitgenössische indigene Literatur. Sie liebt das Reisen und fremde Kulturen und hat einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada verbracht. Heute lebt sie in Aachen und schreibt Romane und Kurzgeschichten, die in zahlreichen Anthologien erschienen sind.
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