Die Mittagsfrau von Julia Franck

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Tschemmo
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Die Mittagsfrau von Julia Franck

Beitrag von Tschemmo »

Die Mittagsfrau von Julia Franck

Ein lesenswerter Frauen-Schicksalsroman im Deutschland er beiden Weltkriege

Vorbemerkung:
Ich habe den Original-Buchtext (aus der Blindenhörbücherei) gehört, eventuelle Abweichungen der Schreibweise sind darauf zurückzuführen. .

Betrachtung des Inhalts

Prolog
Zwei Monate nach Ende des 2.Weltkrieges verlieren sich Sohn Peter und Mutter Alice endgültig auf einem Bahnhof während der Flucht aus Stettin Richtung Westen. Die Erzählperspektive ist die Peters, eines siebenjährigen Jungen. Das Verhältnis der beiden ist gestört: ?Mutter?, rief Peter, aber sie hörte ihn nicht. (?) Er griff ihre Hand, sie machte sich los und ging voran. Schließlich setzt sie Peter mit Nachdruck auf einer Bank ab und verschwindet. Die Motive der Mutter für ihr unmütterliches Verhalten liegen für Peter schlicht außerhalb seiner gedanklichen Möglichkeiten. Der Leser ahnt durch die Augen Peters zwar die Absicht von Alices Handeln, diese bleibt aber zwangsläufig unklar und unvorstellbar. Dass Menschen in dieser Zeit einfach verschwinden konnten, wird anhand anderer Personen gezeigt. Für den unvoreingenommenen Leser bleibt die Frage: Was ist da passiert?

Hauptteil
Der nun folgende Teil ist eine Rückschau und beginnt in der Zeit Anfang des 1. Weltkrieges. Im Mittelpunkt stehen die Schwestern Martha und Helene, diese stellt jetzt die Perspektive dar. Helene wird im Verlauf bis 1945 zu Alice und es wird versucht, eine Erklärung dafür zu geben, was für Entwicklungen eine Frau dazu treiben können, ihr Kind absichtlich, das wird gegen Ende der Handlung ganz deutlich herausgestellt, auszusetzen ? zu verstoßen.
Helene wird selbst von ihrer depressiven jüdischen Mutter nicht geliebt und verachtet. Der Vater geht in den Krieg, kehrt körperlich versehrt zurück und stirbt kurz darauf. Sie entwickelt eine starke Bindung, die auch körperlich homoerotische Erfahrungen einschließt, an ihre 9 Jahre ältere Schwester Martha. Beide werden Krankenschwestern und gelangen durch Zufall und eigene Initiative in das Haus einer Tante nach Berlin. Während Martha in Drogen, dem ausschweifenden Leben des Berlin der 20er Jahre und einer Liebe zu ihrer ehemaligen Kollegin Leontine ihre Erfüllung sucht, träumt Helene weiter. Ihr, von ihrer depressiven Mutter ignorierter, Intellekt lässt sie an ein Medizinstudium denken. Leontine, die sich nicht als Schwester zufrieden gibt und ein Studium der Medizin absolviert, gibt hier das Vorbild, das Martha nicht mehr geben kann. Helene bekommt durch die Tante die Möglichkeit das Abitur zu machen und wird auf der anderen Seite von eben dieser in das frivole Nachtleben der Stadt eingeführt. Sie lernt Karl kennen und lieben. Dieser ist zunächst, wie alle Männer, von Helenes Erscheinung, diese wird seit dem Prolog immer wieder in Erinnerung gebracht, angezogen. Gleichzeitig aber erkennt er in Helene eine Verwandte im Geiste. Helene, übrigens auch durchaus von Karl angezogen, zitiert ein Gedicht: Weltende von Else Lasker-Schüler. Karl beginnt darüber zu sprechen und zeigt Deutungsweisen auf, beide diskutieren und Helene ist fasziniert. Noch nie hatte sie einen Menschen über ein Gedicht sprechen hören. Karl wird der erste Mann in Helenes Leben, der sie als Mensch und nicht nur als Frau betrachtet. Der Philosophie-Student und die ambitionierte Krankenschwester bilden eine funktionierende Einheit von Körperlichkeit und Geist auf ihrem gemeinsamen Weg. Das physische ist ein starkes Motiv im Roman. Der Körper als zwingende Bedingung des Daseins, nur er bietet einerseits die Möglichkeit der persönlichen Entfaltung und Erfüllung, andererseits ist da dessen unvermeidliche Ekelhaftigkeit. Es ist immer wieder von Blut, Schweiß, Exkrement und deren Gerüchen die Rede. Diese Seite des körperlichen ist für Helene primär nicht abstoßend - solange sie die Kontrolle behält. Als Krankenschwester hat sie durchaus mit wenig erfreulichen Körperwelten zu tun. Sie entwickelt früh einen Hang zu Waschen und Sauberkeit, dieser ist aber nicht zwanghaft. Es roch nach Urin, als hätte er vergessen seinen Nachttopf zu
leeren. (?) Das Nachthemd roch nach Karl.
So geht es ihr durch den Kopf, ohne dass sie gleich anfangen muss zu putzen und aufzuräumen. Vielmehr folgt diesem Eindruck dann die Magie des Blickes und der Berührung, ihre erste gemeinsame Nacht ? von Helene gewollt. Die Vereinigung zweier geistig beseelter freier Menschen in Körper und Geist bildet, etwa in der Mitte des Romans, den Höhepunkt im Leben der aktiv handelnden und wollenden Helene. Alles zerbricht mit Karls Unfalltod. Mit Karl stirbt auch das anscheinend so nahe liegende glückliche Leben und letztlich auch Helene. Sie wird zur willenlosen, nur noch reaktiv zur Handlung fähigen, Alice. So nennt sie Wilhelm, ein aufstrebender Nazi-Ingenieur, der um sie wirbt. Helene will nur ihre Ruhe, wird aber vom Schicksal nicht in Ruhe gelassen. So wird sie als Alice Wilhelms Frau. Wilhelm sieht nur ihr Äußeres. Dieses für sich zu gewinnen lässt ihn sogar schuldig werden, er kaschiert ihre jüdische Abstammung durch die Beschaffung gefälschter Papiere. Wilhelm verhält sich ?korrekt?, sieht aber nur sich und nicht Helene hinter Alice. In der Hochzeitsnacht blitzt ein letztes Mal kurz körperliche Lust in der Person Helenes auf, als Wilhelm ihr die Möglichkeit erlaubt, sich ihm hinzugeben wie es ihr gefällt. Mit der Erkenntnis Wilhelms, dass Alice keine Jungfrau mehr war, bricht auch für diesen sein privater Traum zusammen. Sein Einsatz hat sich nicht ausgezahlt, Wilhelm wird zum nationalsozialistischen Ehe-Despoten, der seine Frau solange in der Ehe vergewaltigt bis sie schwanger wird. Wilhelm sucht sein ?Heil? in der Karriere, der Krieg bricht aus. Helene bekommt das Kind und ignoriert zunächst die Möglichkeit, es könnte ein Junge sein. Das Kind ist dann Peter. Sie geleitet Peter materiell durch den Krieg, eine Mutter kann sie ihm nicht sein. Peter erfährt während des Krieges mehrfach Traumatisierungen, die die Mutter arbeitend, fast nur getrennt von ihrem Sohn, nicht mit diesem teilen kann. Sie kümmert sich im Krankenhaus um versehrte Körper. Seelisch selbst schon zutiefst krank kann sie diesbezüglich anderen keine Hilfe sein, nicht mal ihrem eigenen Sohn. Sie hört ihn schon nicht mehr, z.B. wenn er ihr laut vorliest. Helene ist vollkommen zerstört und kann die Welt nur noch arbeitend ertragen, sie kann und will nicht nachdenken müssen. Der Krieg endet und Helene wird mehrfach vergewaltigt. So kommt es dazu, dass sie die bloße Anwesenheit ihres eigenen Sohnes nicht mehr ertragen kann. Einmal liegt er auf ihr und sie spürt sein kindlich erigiertes Glied. Sie stößt ihn von sich, er darf nicht mehr bei ihr im Bett schlafen (Helene selbst hat bis weit ins Teenageralter mit ihrer Schwester in einem Bett geschlafen). Es nützt alles nichts, es gibt für sie keine andere Möglichkeit, der kleine Mann muss weg. Sie setzt ihn, leidlich versorgt mit einem ochsenblutfarbenen Koffer, aus.

Epilog
Zehn Jahre nach Kriegsende kündigt sich Helene bei Onkel Sämisch, hier lebt Peter seit seinem Verlassenwerden, an, um ihr Kind zu besuchen. Der inzwischen 17-jährige junge Mann Peter jedoch, in dessen Perspektive erneut gewechselt wird, entzieht sich ihrem Besuch durch verstecken auf dem Bauernhof. Der Leser sieht die 47-jährige durch Peters Augen: eine ferne fremde Gestalt. Der Leser weiß, was dieser Frau, vornehmlich von Männern, angetan worden ist, Peter weiß es nicht. Peter kann nicht verzeihen, beiden wird erneut die Möglichkeit einer beginnenden Aufarbeitung genommen. Helenes Motive wären für ihn inzwischen vielleicht zu verstehen, ob sie hätte mit ihm sprechen können ist aber auch ungewiss. Ob es wirklich Helene oder eher Alice ist, die da erscheint und wieder verschwindet, bleibt ebenso offen.


meine Beurteilung

Hoffentlich kommt da noch mehr als Sex, Drogen und die Mensche Gaga machender Krieg ? so mein Urteil nach fast der Hälfte des Buches. Ich hatte die Frage des Prologs aus dem Blick verloren. Ein eindeutigerer Hinweis als es die goldlockige Haarpracht, sowohl Alices als auch Helenes, ist, hätte meiner Ansicht nach helfen können , den Leser interessierter über das lange Stück hinweg zu helfen. So ist die Verknüpfung zwar immer zu ahnen, aber lange nicht eindeutig und der Punkt, an dem man dann unbedingt weiter muss, kommt spät. Aber das Verlangen einige Bücher ihren Lesern einfach ab, so Umberto Eco in einem Text über sein eigenes Werk ?Im Namen der Rose?. Ich hätte es mir etwas direkter gewünscht, aber das ist wohl Geschmackssache.
Die Sprache ist durchweg geschliffen und dem Inhalt angepasst. Wenn die Zeit dafür ist, wird bildhaft erzählt, detailliert beschrieben und philosophiert. An anderer Stelle ist sie dann stolpernd, sprunghaft, fast abgehackt. Wie ich es selbst hätte lesen können, weiß ich nicht, meine Vorleserin hat es jedoch geschafft, den Text insgesamt flüssig zu lesen. Das Buch ist nicht herunterzulesen, verschafft so aber dem Roman die Zeit, die er benötigt.
Überraschend war für mich der totale Zusammenbruch Helenes nach Karls Tod. Das Außergewöhnliche der Liebe war mir zunächst entgangen. Julia Franck ist es meiner Meinung nach nur unzureichend gelungen dieser Tatsache inhaltlich oder sprachlich Rechnung zu tragen. Das ist schade für dieses wichtige Moment des Romans und wäre der Autorin bestimmt ein Leichtes gewesen. Möglicherweise soll die Zurückhaltung in Details den nicht großen Unterschied zwischen einer liebevollen und einer nur auf Ansehen bedachten Beziehung wahren. Sie hat es so gewollt, ich hätte es mir eindringlicher gewünscht.
Beruhigend ist, dass eine Autorin des Jahrgangs 1970 so ein Buch schreiben kann. Die infiltrierende Unmenschlichkeit des 3.Reiches, seine Gesellschaft und Menschen zerstörende Intoleranz, werden vor dem Hintergrund Helenes Schicksal eindringlich heraufbeschworen. Wer sein Geschichtsverständnis des 20.Jahrhundrts mit diesem erschütternden Schicksal bildhaft und konkret bereichern will, dem sei dieses Buch empfohlen. Außerdem wird gezeigt, wie ausgeliefert insbesondere Frauen in einer fast ausschließlich von Männern beherrschten Welt waren.
Neue historische Erkenntnisse und Perspektiven bietet es nicht, will es aber wohl auch nicht. Helenes Geschichte ist vielschichtig, benötigt Zeit und wirft dann immer neue Fragen auf. Was wäre gewesen, wäre Karl, der Jude war, nicht verunglückt? Hätte Helene ohne die politischen Entwicklungen der 1930/40er Jahre in ein selbst bestimmtes Leben zurückgefunden? Hätten Mutter und eine Tochter eher zu einer Gemeinsamkeit finden können? Außer Frage steht: Die Verhältnisse für Frauen sind heute besser! Aber wäre ein solches Schicksal hier und heute unmöglich? Nicht zuletzt wirkt es in der Gegenwart, Julia Franck könnte Peters Tochter sein, was haben unsere Eltern und Großeltern erfahren oder getan?
Diese möglichen Schicksals-Fragen stellen sich mir und bestärken mich in meinem abschließenden Urteil: Ein lesenswerter Frauen-Schicksalsroman im Deutschland er beiden Weltkriege.


Anhang - Gedichte zum Buch

Das Gedicht über das Helene und Karl bei ihrer ersten Begegnung sprechen:

Weltende von Else (Elisabeth) Lasker-Schüler

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
Lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen?
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du! wir wollen uns tief küssen -
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.

So kommt mir Helene nach dem Tod Karls vor:

Der Panther von Rainer Maria Rilke

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille,
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille ?
und hört im Herzen auf zu sein.


Dialog hätte ihr mit Sicherheit helfen können, aber da war keiner?.

Dialog von Rose Ausländer

Endlos
der Dialog

Du und die Blume
du und der Stern
du und dein Mitmensch

Ununterbrochenen
Zwiesprache
Funke an Funke

Der König in dir
der Bettler in dir

Deine Verzweiflung
deine Hoffnung

Endloser Dialog
mit dem Leben


Zerbrechlicher Mensch von Stefan Fromm

Ein Mensch ist Körper,
Mensch sein aber ist zwei:
Körper und Geist
als Mann oder Frau
zusammengeschweißt

Nur zusammen können sie Sein

Mehr oder weniger,
aber niemals allein.
Ungleichgewicht verzerrt das GesICHt
vom Menschen zur Fratze.

Da ist keine Grenze

Fratzengesicht zusammengeschweißt
gleich Körper und Geist
als Mensch.
Dessen Würde ist unantastbar,
aber zerbrechlich.
Alt werden ist schön, das Problem ist nur, dass der Körper dabei in die Binsen geht!

(Siri Hustvedt)
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Vidya Venn
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Beitrag von Vidya Venn »

Vielen Dank, tschemmo, für die Rezension. Kann ich so unterschreiben. Für mich war lange Zeit in dem Buch Thema: Wieviel kann ein Mensch, in diesem Fall eine Frau ertragen an Ablehnung, Verkanntsein, Benutzung, Übergriffen... ohne daran innerlich zu sterben. Und nach Karls Tod ist sie dann gestorben. Armer kleiner Sohn
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