Melanie Metzenthin: Die Hafenschwester (2). Als wir wieder Hoffnung hatten. Roman

Stellen Sie ein Buch detailliert vor - mit Inhaltsangabe und Ihrem Urteil.
Antworten
Benutzeravatar
Vandam
Beiträge: 1603
Registriert: Do 22. Sep 2005, 15:40
Kontaktdaten:

Melanie Metzenthin: Die Hafenschwester (2). Als wir wieder Hoffnung hatten. Roman

Beitrag von Vandam »

Melanie Metzenthin: Die Hafenschwester (2). Als wir wieder Hoffnung hatten. Roman, München 2020, Diana-Verlag, ISBN 978-3-453-29244-4, Klappenbroschur, 495 Seiten, Format: 13,6 x 4,4 x 20,6 cm, Buch: EUR 15,00 (D), EUR 15,50 (A), Kindle: 11,99.

Bild

„Paul lächelte still vor sich hin. So fühlte es sich an wenn man alles im Leben erreicht hatte. Er hatte eine Arbeit, die ihm gefiel, eine wunderbare Frau, drei gesunde Kinder und eine schöne Wohnung. Was wollte man mehr vom Leben? Mochten sich die Reichen auch luxuriöse Fahrten in der ersten Klasse eines riesigen Ozeandampfers leisten können, ihm genügte es, die Sonntage mit seinen Kindern zu genießen.“ (Seite 18)

Zugegeben: Im ersten Band war mehr Action. Das Leben hat eben auch ruhigere Phasen und die sind in einem historischen Roman immer besonders tückisch. Die Romanhelden freuen sich ihres Lebens und der Leser weiß genau, dass ihre Welt bald in Trümmern liegen wird.

Hamburg 1913: Martha, 34, hat sich aus ärmlichsten Verhältnissen zur OP-Schwester emporgearbeitet. Ein Beruf, den sie leider nicht mehr ausüben darf, seit sie mit dem Ingenieur Paul Studt verheiratet ist. Nur ledige Frauen und Witwen dürfen einer bezahlten Tätigkeit als Krankenschwester nachgehen.

Ehrenamtliche Hafenschwester
Die überzeugte Sozialdemokratin will aber nicht nur um ihren Mann und die drei Kinder herumwuseln, sie will helfen. Und so arbeitet sie ehrenamtlich als Hafenschwester. Damit tut sie etwas für die Allgemeinheit, aber ihre Fähigkeiten als OP-Schwester liegen brach. Das ist ungerecht, doch von heute auf morgen lassen sich die Gegebenheiten nicht ändern. Diese Erfahrung haben Martha und ihre politisch engagierten Freundinnen vom Frauenverein schon mehrfach machen müssen.

Martha will sich nicht beklagen. Ihr Leben ist gut so, wie es ist. Okay, Probleme gibt’s immer. Wo bringt man zum Beispiel von jetzt auf gleich neun verwaiste Geschwister unter? Am besten noch so, dass sie nicht in alle Winde zerstreut werden? Die Möglichkeiten sind begrenzt. Auch in Marthas Familie knirscht’s. Ihr jüngerer Bruder Heinrich, ein Kapitän, hat von einer seiner Fahrten eine chinesische Ehefrau mitgebracht: Mi-Ling. Da gibt’s nicht nur aus sprachlichen Gründen Verständigungsprobleme. Kulturell scheinen Asiaten und Hanseaten nicht besonders kompatibel zu sein.

Martha befürchtet, ihr Bruder habe sich von einem billigen F l i t t c h e n einfangen lassen. Doch je genauer wir hinter Mi-Lings Fassade blicken und je mehr wir über ihre Vorgeschichte erfahren, desto mehr Respekt nötigt sie uns ab. Für mich ist Mi-Ling eine der interessantesten Figuren in dem Roman – eine Frau mit Ecken und Kanten, die für ihr Glück zu kämpfen bereit ist. Da klappt sogar einem abgebrühten Ganoven die Kinnlade runter. Mi-Ling Westphal mag klein und zart sein, aber sie lässt sich nicht die Butter vom Brot nehmen.

Das Leben ist schön – besonders in New York
Wenn Martha Studt schon einen beachtlichen Aufstieg vom armen Mädchen aus dem Gängeviertel zur geachteten Krankenschwester und Ingenieurs-Gattin hingelegt hat, dann ist ihrer Freundin aus Kindertagen, Milli, der ganz große Wurf geglückt: Sie hat es von der jugendlichen Zwangsprostituierten zur Ehefrau eines US-amerikanischen Politikers gebracht. Zur Hochzeit ihrer ältesten Tochter lädt Milli die Studts samt Kindern nach New York ein. Schon die luxuriöse Überfahrt auf dem gigantischen Passagierdampfer ist für die Hamburger Familie ein überwältigendes Ereignis. Als sie in New York eintreffen, kommen sie aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Welt, in die Milli eingeheiratet hat, ist an Wohlstand und Glamour kaum zu überbieten.

Doch nicht nur Martha fragt sich, warum der vermögende US-Politiker eigentlich eine Frau von zweifelhaftem Ruf aus Deutschland importieren musste. Hätten ihm nicht die heiratswilligen Amerikanerinnen die Bude einrennen müssen ...?

Der Krieg bricht aus
Davon abgesehen ist New York der Wahnsinn. Nie hätte Martha gedacht, dass sie das einmal zu sehen bekäme. So könnte das Leben bleiben! Tut es aber nicht. Als der Krieg ausbricht und Paul trotz seiner 41 Jahre eingezogen wird, muss Martha alleine für die Familie sorgen. Wie lange werden es sich die Krankenhäuser in Kriegszeiten leisten können, qualifizierte Krankenschwestern zu verschmähen, nur weil sie verheiratet sind?

Selbst wenn Martha es schaffen sollte, sich und die Kinder irgendwie durchzubringen - für ihre Schwägerin und deren Sohn kann sie finanziell nicht auch noch sorgen. Mi-Ling muss sich selbst Arbeit suchen. Nur welche? Sie hat eine starke körperliche Beeinträchtigung, aber sie ist einfallsreich und zäher als man meint.

Paul kommt zurück – schwer kriegsversehrt
Dann kommt der Schock: Paul wurde an Front schwer verwundet: Er hat eine Gesichtsverletzung erlitten, die ihn so stark entstellt, dass er sich nicht mehr unter Menschen traut. Martha blutet das Herz, ihren geliebten Mann so zu sehen. Und Existenzängste plagen sie auch: Wenn er nie wieder in seinen Beruf zurückkehren kann, wird sie es dauerhaft schaffen, die Familie zu ernähren? Was, wenn sie nach dem Krieg als verheiratete Frau nicht mehr arbeiten darf?

Als OP-Schwester weiß sie, dass es neue Operationsmethoden gibt, mit denen man entstellte Gesichter rekonstruieren kann. Doch die sind noch im Experimentierstadium. Wird es gelingen, Paul sein Gesicht wiederzugeben?

In einem Roman dieses Umfangs gibt’s natürlich noch jede Menge Nebenhandlungen und Personen, mit denen man mitfiebern kann: mit Moritz, der ebenfalls schwer kriegsversehrt nach Hause kommt ... mit Marthas Kollegin Carola, deren Leben eine unerwartete Wendung nimmt und mit Heinrich, der aufgrund seiner Blockadefahrten wochen- und monatelang von der Bildfläche verschwindet, während seine Familie daheim vor Sorge vergeht. Der hat ordentlich was zu erzählen, wenn er zwischendrin mal nach Hause kommt!

Es gibt nicht permanent Action
Gegen Kriegsende geht’s ordentlich rund in der Geschichte. Davor ist die Handlung über weite Strecken nicht überaus temporeich. Damit habe ich selbst kein Problem: Ich schaue gern Romanfiguren aus anderen Epochen beim Leben zu und versuche mir vorzustellen, wie das damals war. Doch ich erwähne es sicherheitshalber. Heute ist der Konsument ja aus den Medien gewöhnt, dass immerfort in schnellem Takt was Dramatisches passiert. Die Geduld, sich einfach auf anderer Leute Lebensumstände einzulassen, hat nicht jeder, obwohl diese Geschichten ihren Reiz haben.

Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Studts nicht zu gut sind, um wahr zu sein. Irgendwie machen sie immer alles richtig. Zum Ausgleich gibt’s jedoch genügend fehlbare Nebenfiguren, mit denen man sich als Durchschnittsmensch identifizieren kann. Sie treffen auch mal zweifelhafte Entscheidungen und müssen dann – wie wir alle – mit den Konsequenzen leben.

Und sollte man als Leser*in beim Thema „1. Weltkrieg“ nicht ganz sattelfest sein: Hier liest man eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und lernt nebenbei noch allerhand dazu. Wenn historische Ereignisse am Beispiel konkreter Schicksale geschildert werden, ist das für mich immer greifbarer als reine Fakten und Erklärungen. Und es bleibt auch mehr hängen.

Die Autorin
Melanie Metzenthin lebt in Hamburg, wo sie als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie arbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht, in denen psychische Erkrankungen oft eine wichtige Rolle spielen. Beim Schreiben greift die Autorin gern auf ihre berufliche Erfahrung zurück, um aus ihren fiktiven Charakteren glaubhafte Figuren vor einem realistischen Hintergrund zu machen. 2020 wurde sie für ihr Buch "Mehr als die Erinnerung" mit dem DELIA Literaturpreis ausgezeichnet. Unter dem Pseudonym "Antonia Fennek" schreibt sie Psychothriller.
Antworten