Gut Greifenau - Silberstreif

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ann-marie
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Registriert: Mi 26. Feb 2020, 06:28

Gut Greifenau - Silberstreif

Beitrag von ann-marie »

Ein Silberstreif auf Gut Greifenau, mit ersten zarten braunen Wölkchen

Voller Spannung bin ich vor einigen Tagen zurückgekehrt auf das mir bereits seit vier Bänden wohlvertraute Gut Greifenau in Hinterpommern und finde mich im Herbst 1923 dort ein. Wenn auch der Erste Weltkrieg mit all seinen Schrecken, die auch an Konstantin und Rebecca, ihren Eltern und Geschwistern nicht spurlos vorübergegangen ist, setzt sich der Kampf ums nackte Überleben weiter fort. Die Inflation in Deutschland befindet sich auf ihrem Höhepunkt, das Geld verliert fast stündlich an Wert und mühsam zusammengesparte finanzielle Reserven, die der Erfüllung lang gehegter Träume dienen sollen, lösen sich buchstäblich in Luft auf. Und dies betrifft jeden auf Gut Greifenau, sowohl die Grafenfamilie als auch die Bediensteten.
In diesem Zusammenhang gelingt es der Autorin hervorragend, die damit verbundenen unterschiedlichen Auswirkungen sehr deutlich und teilweise auch ergreifend darzustellen. Überwiegt bei Konstantin und Rebecca das Verantwortungsbewusstsein nicht nur für das gesamte Familiengut und die dort im Haus und auf dem Anwesen Beschäftigten, so haben sie auch die Nöte und Sorgen der Dorfbewohner im Blick. Neben der Grafenfamilie mit ihren ureigenen Aufgaben und Problemen zeigt die Autorin aber auch immer wieder die die Auswirkungen geschichtsträchtiger Ereignisse aus einer anderen Gesellschaftsschicht, und nutzt dazu sehr gekonnt die (vor allem) die Hausangestellten. In Einzelschicksalen, die sehr detailgetreu, aber auch sehr empathisch dargestellt werden, wird man mit fast existenzvernichtenden Auswirkungen konfrontiert. Als Beispiel soll dazu der lang gehegte Traum von Alberts Mutter und Tante auf eine eigene Pension, von deren Einkünften sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können, dienen. Da braucht es nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es ihnen ergeht – oder? Die Ohnmacht, die Fassungslosigkeit, das Fragen, die Verzweiflung – all dies hautnah lesend mitzuerleben, hat mich tief berührt.
Neben bekannten geschichtlichen Fakten werden mit Hilfe von einzelnen Familienmitgliedern die zu dieser Zeit noch immer vorhandenen Standesdünkel bzw. Erwartungshaltungen und Hoffnungen des Adels, hier vor allem des Landadels, dargestellt. Dabei an erster Stelle Gräfin Feodora, Mutter von Konstantin, und neben der zunehmend von ihrer Anwesenheit überforderten Tochter Anastasia der jüngere Sohn Nikolaus.
Wunderbar gezeichnete Charaktere mit Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die überaus glaubwürdig dargestellt werden und die beim Lesen immer wieder zum Kopfschütteln führen. Besonders hervorzuheben in diesem Zusammenhang die Figur des Nikolaus. Nach wie vor voller Wut und Bitterkeit über die Stellung seines Bruders, der das Familiengut übernommen hat, und auf der Suche nach Macht einen Weg einschlägt, der verheerende und grausame Auswirkungen, auch auf eigene Familienmitglieder haben könnte – berücksichtigt man die folgenden realen Ereignisse in der deutschen Geschichte. Zunächst schmunzelnd, dann aber mehr und mehr nachdenklich und fragend, als ich (lesend) gemeinsam mit Nikolaus an der ersten Massenansprache Hitlers im Sportpalast Berlin teilnehmen konnte. Sehr interessant zu erfahren, wie Hitler und auch Goebbels, der bei dieser Veranstaltung als Vorredner auftrat, als Person wahrgenommen wurde. Goebbels, "das Fliegengewicht", und Hitler, "dieser unscheinbare österreichische Gefreite" – einmal eine ganz andere Sichtweise und dank den hervorragenden Recherchearbeiten der Autorin glaubwürdig vermittelt.
Mit sehr viel Engagement und Einfühlungsvermögen widmet sich die Autorin in der Figur von Katharina einem überaus wichtigen Kapitel deutscher Frauen, die ihre Aufgabe und Berufung nicht am heimeligen Herd sehen: Katharina erfüllt sich endlich ihren heißersehnten Traum eines Medizinstudiums. Dabei wird die damit verbundene Doppel- vielleicht sogar Dreifachbelastung von Ehefrau, Mutter und Studium sehr treffend und realistisch dargestellt. Muss sie sich nicht nur gegen die fast ausschließlich männlichen Kommilitonen durchsetzen, so steht ihr auch so mancher Dozent alles andere als wohlwollend gegenüber. Würde dies nicht bereits sehr viel Kraft kosten, so fordert auch Julius, ihr Ehemann immer mehr ihrer kostbaren Zeit. Jung, voller Elan und mitten in den s.g. "goldenen Zwanziger" lebend, will er die vielfältigen gesellschaftlichen Ereignisse gemeinsam mit seiner Frau Katharina genießen. Zudem steht er technischen Entwicklungen sehr offen gegenüber und nutzt auch die gerade erst beginnenden Flugreisen, ganz im Gegensatz zu Katharina, liebend gerne. Mit Hilfe diese jungen Ehepaares erhält man Einblicke in einen deutschen Zeitabschnitt, die zumindest in ihrer Gesellschaftsschicht als sorglos, lebenslustig, spannend, aufregend und abwechslungsreich empfunden wird. Wobei ich faszinierend so manche technische Entwicklung hautnah mitverfolgen konnte, die – ich muss es zugeben – bezüglich einer bestimmten Person tief betroffen hat: Alexander, der jüngste Sohn derer von Greifenau. Verdient er sich doch seinen Lebensunterhalt durch die musikalische Untermalung von Stummfilmen und sieht, so die ersten zaghaften Andeutungen, möglicherweise durch die Entwicklung des Tonfilms und der zu den Filmen bereits vorhandenen Schallplatten einer Arbeitslosigkeit entgegen.
Ach ja, Alexander … der mir in diesem Roman besonders ans Herz gewachsen ist. Für diese Charaktere, bzw. deren Entwicklung, vergebe die höchste Punktzahl! Die Autorin lässt ihn mit so viel Herzenswärme seinen Weg gehen, zeigt mir seinen tiefen und verzweifelten Schmerz und sein zunehmend hoffnungsloses und verzweifeltes Fragen und Suchen nach Liebe und Geborgenheit. Wenn ich mir da vor Augen halte, wie und was sich in den Folgejahren in Deutschland ereignen wird – ja, ich mache mir wirklich Sorgen um Alexander. Es ist mir bewusst, dass es sich um eine reine Romanfigur handelt und alles nur Fiktion ist – und trotzdem kann ich mich meines Mitgefühls einfach nicht erwehren. Eine meisterhafte Charakterstudie.
Der Roman spiegelt allerdings deutsche Geschichte nicht nur aus der gehobenen Gesellschaftsschicht wieder, sondern lässt auch die arbeitende Bevölkerung zu Wort kommen. Dabei finden zutiefst menschliche Sehnsüchte eine würdigende und wertschätzende Berücksichtigung: Wiebke und Bertha, nicht mehr die Jüngsten, mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Frage nach dem weiteren Lebenssinn tragen sich mit dem Gedanken an eine Ehe. Wobei mir ihre Überlegungen, Vorbereitungen, z.B. in Form von schriftlichen Ratgebern über die Rolle einer Ehefrau, und auch ihr Verhalten mich so manches mal haben schmunzeln lassen. Dabei faszinierend Wiebkes Gedankengänge über ihre einstige Ablehnung des inzwischen in die USA ausgewanderten Eugens mit zu verfolgen. Ach je, sie tut sich echt schwer und macht sich zu viele überflüssige Gedanken anstatt auf ihr Herz zu hören – so zumindest mein Eindruck und wunderbar einfühlsam von der Autorin beschrieben. Am liebsten würde man Wiebke mal tüchtig durchrütteln ….
Eine besondere Rolle fällt aber auch Albert und Ida zu, deren sehnlicher Wunsch nach einem eigenen Kind, endlich Erfüllung finden könnte. Auch die Frage seiner familiären Herkunft, die nur wenigen Personen bekannt ist, schwebt immer wieder ungeklärt durch die Seiten. Spannend, ob und wann dies offenkundig wird.
Mein Fazit, kurz und bündig: ein wunderbarer Roman über eine sehr wichtige Zeit in der deutschen Geschichte. Die Charaktere werden noch überzeugender herausgearbeitet. Sie werden immer mehr zu Persönlichkeiten mit bereits vorhandenen individuellen Neigungen und Einstellungen, die nicht nur immer deutlicher werden, sondern die sehr zielsicher, treffend und überzeugend in die deutsche Geschichte eingebettet werden und an denen konkrete und realistische Auswirkungen grausamer geschichtlicher Ereignisse aufgezeigt werden.
Ich habe alle Greifenau-Bände gelesen und genossen. Jeder einzelne hat mich überzeugt. Aber der vorliegende Roman steht für mich an erster Stelle. Mit großer Erleichterung habe ich zur Kenntnis genommen, dass ich bereits nächstes Jahr wieder nach Greifenau zurückkehren kann. Allerdings sehe ich dem Wiedersehen mit sehr gemischten Gefühlen entgegen, da mich das Ende von "Silberstreif" fassungslos zurückgelassen hat.
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